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Teil der Exklusiv-Serie Die Hengst-Chroniken

Die Hengst-Chroniken #61

Michael Hengst / 29. Mai 2024 - 16:49 — vor 8 Wochen aktualisiert
Inhaltsverzeichnis

    Teaser

    Die momentane Kündigungswelle ist eine Katastrophe für viele Beschäftigte in der Spieleindustrie, doch inzwischen oft "normales", von anderen Branchen abgeschautes Geschäftsgebaren.
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    Der Sommer fängt gut an! Moment, da fehlt ein "nicht". Für die Mitarbeiter der Spielebranche sieht es nach wie vor nicht rosig aus. Aber auch Freiberufler wie ich werden von aktuellen Ereignissen überrollt. Schon 2023 war für so einige Menschen in der Industrie ein ziemlich katastrophales Jahr – über die Entlassungen schwadronierte ich bereits im November in Das Ende ist nah. Letztes Jahr waren es nach offizieller Lesart (also die Entlassungen, die öffentlich gemacht wurden) insgesamt circa 11.000 Stellen, die dem Rotstift zum Opfer fielen.

    Dieses Jahr dürfte das “Blutbad” noch deutlich an Fahrt zunehmen und erheblich mehr Menschen treffen. Bereits im Mai meldet die Webseite Video Games Layoffs über 9.400 Entlassungen – und wir haben noch sechs Monate des Jahres 2024 vor uns! Ganze Studios werden geschlossen. Spiele eingestellt. Abteilungen verschlankt. Kurz nachdem ich die erste Fassung dieser Zeilen niederschrieb, hat Microsoft vier Studios unter Bethesda den Saft abgedreht, darunter Arkane Austin und dem japanischen Studio Tango Gameworks.

      Aber wie schon an anderer Stelle gesagt: Einen Branchencrash wird es nicht geben! Im Gegenteil. Der Spielebranche an sich geht es so gut wie nie zuvor. Die aktuellen Zahlen und die Aussichten für kommende Jahre sind im Grunde rosig. 2023 haben nur die Bereiche PC und Konsole zusammen rund 94 Milliarden US-Dollar gemacht (der Gesamtmarkt lag bei circa 185 Milliarden USD). Ein Plus von 2,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bis 2026 soll der Markt – in diesem Segment – bis auf 107,6 Milliarden US-Dollar wachsen.

    Zum Vergleich: Knapp zehn Jahre zuvor, im Jahr 2015, lag der Markt bei 62,2 Milliarden US-Dollar. Große Treiber des Wachstums sind übrigens Spiele wie Grand Theft Auto, League of Legends, Call of Duty und andere jährliche Franchise-Releases wie Titel von EA-Sports sowie Plattformen wie Roblox. So viel zum Thema Innovation. Und noch als Denkanstoß: Rund 90 Prozent des Umsatzes mit PC- und Konsolenspielen aus dem Jahr 2023 wurden mit nur 43 (!) Titeln erwirtschaftet. Zugleich hat die Spielzeit seit 2021 kontinuierlich abgenommen und geht weiter nach unten. Über die Hälfte der Zeit, die Konsumenten mit Spielen verbringen, geht überdies in Titeln drauf, die älter als sechs Jahre sind. Mit steigendem Anteil. Kurzum: Wir als Konsumenten meckern zwar gerne über mangelnde Innovationen, ein wesentlicher Teil kauft aber immer wieder die gleichen Titel und spielt im Grunde mehrheitlich alte Spiele.

     
    In vielen Chefetagen haben mittlerweile nicht die Spielemacher das Sagen, sondern Finanzexperten.
    Zurück zu der aktuellen Entlassungswelle: Die Frage, warum es trotz steigender Zahlen immer wieder Massenentlassungen gibt, beschäftigt die Branchenauguren schon lange. Da werden ja teils auch profitable Studios einfach geschlossen. Warum? Wird „nur“ der Corona-Überschuss wieder abgebaut? Oder wird für AI vorgesorgt? Alles sicher richtige, aber auch einfache Erklärungen. Eine tieferliegende Begründung dürfte die kapitalgetriebene Einstellung vieler, vor allem westlicher, Firmen sein. Seit Jahren rede ich davon: Das Spielegeschäft ist vornehmlich genau das – ein Geschäft. Studios wie Larian mit seinem auch tief in die Spielentwicklung involvierten CEO Swen Vincke  sind eine Ausnahme-Erscheinung. In vielen Chefetagen haben nicht die Spielemacher das Sagen, sondern Finanzexperten, Buchhalter, Börsenprofis. 

    Ein tiefblickender Artikel mit Aussagen von Lars Wingefors  – (noch) Chef der (noch nicht aufgespaltenen) Embracer Group – findet sich beispielsweise auf der Game Developer-Webseite. Insbesondere ein Zitat aus einem Interview zeigt, wie der Hase wirklich läuft: „Vorrangiges Prinzip ist die Maximierung des Shareholder-Value in jeder Situation.“ Man muss wenigstens seinen Hut vor so viel Ehrlichkeit und Offenheit ziehen. Wingefors spricht aus, was viele Studios und Firmen seit Jahren praktizieren – nicht das Spiel, der Spieler oder gar der Angestellte steht im Fokus, sondern der Anteilseigner und sein Profit. Also hören wir doch auf, uns etwas vorzumachen: Spiele sind für die Unternehmen ein Produkt. Wie Waschmaschinen, Handys oder Autos. Getrimmt wird auf Gewinnmaximierung – dem Wert für Aktionäre halt. Das ist Kapitalismus in Reinkultur.

    Wir meckern zwar, sind eventuell selbst betroffen, aber am Ende sind wir auch nur die willigen Weggefährten der offen dargestellten Gier. Das erklärt auch die Entlassungen im großen Maßstab. Historisch betrachtet gibt es immer Wellen und alle paar Jahre, man verzeihe mir den Zynismus, einen ordentlichen „Aderlass“. Das hängt auch damit zusammen, dass die meisten Spielefirmen mittlerweile nach dem Vorbild der Tech-Industrie geführt werden. Der heilige Gral: Apple oder Google. Die Bibel: Der sogenannte "Gartner Hype Cycle". Das Mantra: Shareholder-Value und Aktienrückkauf.

     
    Visualisierung des Gartner-Hype-Zyklus auf Wikipedia von Idotter.
    Der Hype Cycle ist ein fünfphasiges Modell des Marktforschungsunternehmen Gartner, das die Zyklen von Tech-Firmen verständlich beschreibt und in Folge auch eine weitere stimmige Erklärung für die aktuellen Entlassungen gibt. Und auch, warum es auch (oder gerade) profitable Firmen erwischt. Natürlich funktioniert das Modell nicht bei jeder Firma gleich gut, aber es gibt einige Unternehmen, die diesem Zyklus quasi auf den Punkt folgen und andere, die es zumindest versuchen. Allen gemeinsam ist das Streben nach dem Shareholder-Value.

    Ich empfehle dazu das sehr interessante Video eines amerikanischen Anwalts. Auf seinem bekannten Kanal Moon Channel nimmt der sich genau diesen Themas an. Insgesamt harte Kost, aber auch ohne BWL-Studium gut zu verstehen. Und ein schonungsloser Einblick in die düstere Seite der Spiele-Branche. Kurz gesagt beschreibt das Video (und illustriert an konkreten Beispielen), dass Tech-Firmen und die ihnen nacheifernden Spiele-Publisher (mal mehr, mal weniger bewusst und gekonnt) dem Hype Cycle folgen und dabei die Kunst perfektionieren, Geld von Anlegern abzufischen. Dabei helfen gute Produkte, aber wichtiger ist das Image, auf der Straße des Erfolgs zu sein, um Investoren und Aktionäre zufriedenzustellen und noch mehr an Land zu ziehen.

    Die Kernvokabel für den Erfolg ist "Wachstum", aber Wachstum kann auf viele Arten verkauft werden, zum Beispiel durch steigende Mitarbeiterzahlen und Zweigstellen. So lässt sich seit einigen Jahren beobachten, dass mit zynischem Kalkül in der Hype-Phase die Mitarbeiterzahlen steigen, um die aktuelle Welle möglichst weiter anzufeuern. Wer früh genug die Trendwende erkennt, nutzt das Geld um die absehbare Talfahrt abzuschwächen – hier wird dann unter anderem fleißig entlassen. Und wenn riesige Unternehmen immer riesiger werden, betrifft das natürlich zunehmend viele Arbeitskräfte. Ein vorübergehendes Gleichgewicht ist das Vorspiel zum nächsten Hype.

    An dem erwähnten Video gefällt mir dabei auch, dass nicht die andere Seite vergessen wird: Es gibt noch Firmen, die es anders machen und die eben nicht den Aktionär, den Investor oder die nächsten Quartalszahlen auf ein Podest heben, sondern bei denen die Spiele und Spieler, die eigenen Marken und vor allem die Mitarbeiter im Fokus stehen. Die Rede ist beispielsweise von Nintendo.

    Nintendo hat, im Vergleich mit anderen Firmen, eine eher „bescheidene“ Kapitalisierung von „nur“ 57,05 Milliarden US-Dollar, trotz der zahlreichen weltweit bekannten IPs. Bei Activision Blizzard beispielsweise sind es 74 Milliarden US-Dollar. Wer von beiden die besseren Spiele macht, kann jeder für sich entscheiden. Erleuchtend finde ich die Antwort auf eine Frage an Nintendos CEO Shuntaro Furukawa im Rahmen des Aktionärs-Meetings im Juni 2023. Nintendo hatte im selben Jahr, in dem die gesamte Tech-Branche über 200.000 Mitarbeiter entließ, den eigenen Angestellten eine 10-prozentige Gehaltserhöhung gegeben und das Einstiegsgehalt für neue Angestellte ebenfalls um 10 Prozent erhöht.

    Die Frage lautete: „In diesem Geschäftsjahr haben Sie eine Erhöhung des Grundgehalts Ihrer Mitarbeiter in Japan angekündigt, und ich denke, das ist eine sehr positive Initiative, um talentierte Mitarbeiter zu halten. Andererseits verringert die Erhöhung des Grundgehalts der Mitarbeiter die Mittel für die Dividendenausschüttung. Da kann ich mir vorstellen, dass es negative Rückmeldungen von institutionellen Anlegern gab. Bitte beschreiben Sie die Reaktionen der institutionellen Anleger.“ Furokawas Antwort zeigt, wie Nintendo tickt: „Ich glaube, der wichtigste Faktor für die Aufrechterhaltung unseres hohen Wettbewerbsniveaus ist die Wertschätzung der Mitarbeiter, die verschiedene beliebte Produkte entwickelt und unsere Marke aufgebaut haben… Es gab verschiedene Reaktionen auf diese Lohnerhöhung, und wir erhielten Kommentare, die besagten, dass die Mittel für die Dividende sinken würden, aber es gab auch positive Reaktionen von institutionellen Anlegern, die die Personalstrategie aus einer mittel- bis langfristigen Perspektive bewerten.“

    Kurzum: Furokawas Antwort steht im krassen Gegensatz zur kurzfristig gedachten „Shareholder-Only”-Philosophie vieler westlicher Firmen. Wenn ich angesichts meiner Vorlieben mal wieder als "Nintendo-Fanboy" tituliert werde, verweise ich gerne auf diesen Satz. Übrigens: Alle Frage & Antwort-Sitzungen im Rahmen der Shareholder-Meetings werden von Nintendo veröffentlicht. Die genannten Zitate können (auf Englisch) nachgelesen werden. Andererseits produziert natürlich auch Nintendo in anderer Hinsicht die ein oder andere negative Schlagzeile – zum Beispiel, wenn mal wieder einem Fan-Projekt zu The Legend of Zelda, Metroid & Co. rigoros ein Riegel vorgeschoben wird. Auch wenn dieses scharfe Vorgehen von Nintendo in Urheberrechtsfragen seine eigenen Hintergründe hat.

    Meine persönliche Präferenz, was den Führungsstil angeht, sollte klar sein. Aber insgesamt kann man auch reflektieren, inwieweit unser kollektives Kaufverhalten mit zum aktuellen Problem beiträgt. 

    Noch ein kleiner Lichtblick zum Abschluss: Auch wenn es zunächst noch manchen erwischen wird, ist der aktuelle Zyklus bald wieder zu Ende. Danach wird die Branche wieder einstellen – bis zum nächsten Kipppunkt.          

    Euer
    Michael Hengst
    Abfuehrung
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      Michael Hengst 29. Mai 2024 - 16:49 — vor 8 Wochen aktualisiert
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