Ludonarrative Akustikdissonanz

Ludonarrative Akustikdissonanz Meinung
Teil der Exklusiv-Serie Burtchens Bewusstseinsstrom

Burtchens Bewusstseinsstrom #22

Burtchen / 9. Mai 2024 - 11:23 — vor 2 Wochen aktualisiert

Teaser

Spitzt die Ohren, werte Zuhörerschaft, klopft den Klangteppich aus und beginnt mit dem Trommelwirbel. Unser Kolumnist Christian Burtchen widmet sich heute Musik in Spielen.
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Am Anfang war der Piepton: Bereits 1975 konnte das Magnavox-Odyssey-Modell 100 mit einem „Beeper“ genannten Modul etwas ausgeben, das zumindest physikalisch der Definition von akustischen Signalen entspricht. Für tatsächliche Musik brauchte es damals noch den Ausflug in die Arcade, doch alsbald wurde es auch zu Hause lauter und angenehmer. Die ersten Melodien, die ersten kontinuierlichen Begleitmusiken, echte oder simulierte Mehrstimmigkeit: Die Sound-Fortschritte dieser Ära standen den grafischen in nichts nach.

  Natürlich werde ich hier nicht jeden Dolby-Standard, jede MIDI-Tabelle und Trivia-Notiz zu IRQ-Belegungen ausbreiten, aber eine persönliche Banknachbarn-Anekdote gibt es noch. Ende der 90er stritten Christoph und ich uns über Wertungssysteme. Das additive System der PC Power vergab für Grafik und Sound gleichviele Punkte, genauso wie es später die GameStar tun sollte (hierzu auch meine Kolumne „Über Wertungen“) – für Christoph mit seinem tollen Vobis-PC und als 3D-Pionier ein Unding, wo doch die Grafik so viel wichtiger sei, für mich als „freiwillig“ Klavierunterricht nehmenden Bildungsbürgeraspiranten eine solide Balance. Ungewohnt früh im Bewusstseinsstrom kommen wir zum ersten Publikumsbeteiligungsaufruf: Wie seht ihr grundsätzlich die Relevanz dieser beiden Elemente? Und hat sich hier im Laufe der Zeit eure Wahrnehmung oder Priorisierung geändert?
 

Fluch und Segen der Orchester-Soundtracks

Um diese Zeit herum kamen auch zwei der ersten Spiele mit echtem orchestralen Soundtrack heraus: Heart of Darkness und Outcast. Beide Werke und ihre musikalische Untermalung genießen zurecht einen großartigen Ruf – und doch: sooft ich versucht habe, den mir in höchsten Tönen vorgeschwärmten Soundtracks nachzuhören, sooft habe ich das Medienwiedergabefenster enttäuscht wieder geschlossen. Warum ist das so? Zum einen lautet ein Grund natürlich ganz banal: Musik und ihre Wahrnehmung ist ein zutiefst individuelles Erlebnis und ich liege falsch. Zum anderen glaube ich, dass gerade diese Titel ihre Orchesterbegleitung nicht genug als Teil eines interaktiven Spielgeschehens begriffen haben.

Natürlich haben die genannten Kompositionen Themes für Personen oder eigene Musiken für gewisse Abschnitte. Insgesamt tritt die Wiedererkennbarkeit und Eingängigkeit in dieser Pionierphase von orchestraler Musik jedoch zurück hinter Pomp, der zu sehr Selbstzweck ist. Es ließe sich sogar behaupten, dass die jeweiligen Soundtracks eher "Filmmusik" für ein Spiel als filmisch anmutende Spielmusik waren. Auch das von mir hochgeschätzte und ebenfalls oft für seinen Soundtrack gelobte Outlaws begnügte sich fast immer damit, einfach die Tracks von der CD in zufälliger Reihenfolge abzuspielen, auch wenn sie dann nicht immer in die Situation passten (und die Titel der Stücke konnten obendrein Story-Momente vorwegnehmen).
 
Der erste Ausflug nach Adelpha entzückte dereinst die Ohren von Publikum und Spielkritik, in Bezug auf dynamische Anpassungen ans Spielgeschehen stellte er aber keinen Fortschritt dar.
Denn der Spätneunziger-Sprung zu einem ganzen Satz an Instrumenten (und zu was auch immer 16 Bit bei 44.1 Kilohertz sind) bedeutete gleichzeitig technisch einen Rückschritt in Bezug auf die Dynamik der Musik, die in den Vorjahren gewaltige Sprünge gemacht hatte. Das gemäß vertraglicher Verpflichtung regelmäßig zu erwähnende Monkey Island 2 beispielsweise hatte sensationell aufgezeigt, wie sich innerhalb des Anfangsgebietes von Woodtick ein Thema beibehalten und gleichzeitig so variieren lässt, dass mit jeder Raumänderung ratzfatz eine leicht abgewandelte Version ertönt. Die MIDI-Zeit machte es möglich, denn so konnte eben jedes Instrument „live“ in kürzester Zeit an die neue Melodie angepasst werden, so schnell es der Quintenzirkel zulässt. Doch kurze Zeit später, als MIDI-Stücke von schön abgemischten Musiken in CD-Qualität abgelöst wurden, gab es bei letzterer die direkte Musikgenerierung gar nicht mehr, sondern (grob gesagt) nur noch Hilfsmittel wie ein möglichst kurzes Weichzeichnen des Übergangs zwischen zwei vorgefertigten Audio-Dateien.

Damit lief die Musik-Untermalung in Spielen Gefahr, zugunsten des technischen Fortschritts eine wesentlichere Eigenschaft einzubüßen: Zeitnah und passend auf das Geschehen am Bildschirm zu reagieren. Wer einen Blick hinter die Kulissen der Produktion eines modernen großen Film-Soundtracks geworfen hat, weiß: Hier wird im Regelfall zu einer fertigen Schnittfassung dirigiert und aufgenommen, damit auch wirklich jeder Paukenschlag exakt dann tschingderassabummt, wann er soll. Und teilweise findet auch umgekehrt der Schnitt vorher zu so genannten „Temp Tracks“ statt, deren Rhythmik gefiel. Das ganze engt den kreativen Prozess womöglich etwas zu sehr ein, es zeigt aber eine Kerndifferenz zwischen operativen und performanten Medien. In ersteren (also im Film, wo alles von vornherein feststeht) kann und muss auch aufs Frame genau geplant werden. In letzterem (also in der Live-Darbietung oder viel mehr noch im interaktiven Spiel) ist es aber von größerer Bedeutung, allgemein die Situation richtig zu erfassen und emotional zu untermalen.
 

Dynamisch ans Spielgeschehen angepasste Musik?

Das Dynamedion-Logo hat vermutlich schon jede Person mal gesehen – die Mainzer Truppe verfügt über eine schier endlose Vita, von Alan Wake 2 bis zum 2006er Dino-Echtzeitstrategiespiel Paraworld (sensationelles Main Theme!). Als ich vor gar nicht mal so wenig Jahren Gründer Tilman Sillescu am Rande der Aufnahmen für Anno 1404 fragte, was das wichtigste für die Komposition sei, antwortete er: Darauf achten, dass innerhalb von Sekunden alles anders sein kann. Friede, Freude, Steuerschraube in einer Situation kann blitzschnell zu einem Kriegsereignis, einem Pestausbruch oder allgemeiner wirtschaftlicher Malaise wechseln, und auf alle Wetterumschwünge muss der Soundtrack gefasst sein – und eben schnell überblenden. Gewissermaßen stehen wir (oder die Simulation der Spielwelt) auf dem Dirigentenpult.

  Ich wage aber die These, dass in diesem Bereich durchaus noch Optimierungspotenzial besteht. Auch wenn ich nicht alle Spiele-Soundtracks des Planeten live erlebt habe, scheint es, als ob die Industrie sich insgesamt auf die Mischung „Sound-Teppich für die meiste Zeit“ und „stark geführte cineastische Momente“ eingestellt hat. Und das funktioniert und hat in den letzten Jahren großartigste Tracks und Themes hervorgebracht, mit allgemein gut zum Thema passenden Instrumenten und Melodien! Aber ich würde ein paar Experimente mit einer dynamisch-intelligenten Anpassung der Musik-Begleitung auch stark begrüßen.

Wie sieht es bei euch aus? Habt ihr besonders clever adaptierte Soundtracks in Erinnerung, die Übergänge auch akustisch glaubwürdig verkaufen konnten? Wolltet ihr per se einen bestimmten Lieblingssoundtrack lobpreisen? Oder ist euch Musik eigentlich gar nicht so wichtig und ihr stimmt Banknachbar Christoph zu?
Es lauscht gespannt:

Euer
Christian Burtchen
Abfuehrung
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Burtchen 9. Mai 2024 - 11:23 — vor 2 Wochen aktualisiert
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