Jörg Langer über MW2 und Co.

Krieg: So ein Spaß! Meinung

Jörg Langer hat Call of Duty: Modern Warfare 2 gespielt, hat ohne Gnade oder Reue Hunderte von Bildschirmsoldaten getötet und immer wieder großen Spaß dabei empfunden. Aber darf man das überhaupt, Spaß am virtuellen Krieg empfinden? Was sagt das über den aus, der da spielt? Und ist Modern Warfare 2 vielleicht nicht realistisch genug?
Jörg Langer 12. November 2009 - 12:50 — vor 14 Jahren aktualisiert
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Alarm, Sirenengeheul, die Kriegszeit ist mal wieder angebrochen. Am Bildschirm, natürlich, wir leben in Deutschland und nicht im Mittleren Osten oder einem anderen realen Brennpunkt. Kriegsballerspiele à la Modern Warfare 2 werden selbst von vielen Spielern mit einer Mischung aus Abscheu, Vorverurteilung und auch Selbstkasteiung behandelt. Denn es geht bei diesen Spielen darum, potenziell spaßerfüllt authentische Kriegssituationen nachzuerleben. Sie drehen sich nicht um die Hintergründe von Konflikten oder die Leiden der Zivilisten und Soldaten, sondern den Adrenalinrausch, den Heldenmut, das Mittendringefühl. Die Call of Duty-Reihe erzeugt dieses Gefühl wie wohl keine andere Serie. Bis hierhin dürftet ihr mir noch alle zustimmen...

"Töte alle" mit Rambo-Tiefgang

An Modern Warfare 2 geht nicht die Populärkultur des Gaming zugrunde.
Nun ist immer wieder, auch auf GamersGlobal, in Kommentaren zu lesen, man dürfe nicht den Kritikern Munition geben, müsse am Ruf der Videospiele als Kulturgut arbeiten. Mithin wäre Call of Duty: Modern Warfare 2 ein schlechtes Spiel, das unser aller Hobby in Verruf bringt. Ach was! Medien ist es zu Eigen, dass ihre inhaltliche und qualitative Bandbreite groß ist. An Modern Warfare 2 geht nicht die Populärkultur des Gaming zugrunde, genauso wenig, wie das Bücherlesen zur verdächtigen Handlung wird, weil es Hunderttausende Schundromane gibt. Wieviel Schweinisches, Dummes und Überbrutales beherbergt das Medium Film? Ist das die "Schuld" des Mediums? Würden sich übelwollende Unwissende (die erstaunlich oft als Poltiker in einer "C"-Partei oder als Redakteur bei Tageszeitungen und ZDF-Politikmagazinen zu wirken scheinen) nur dumme oder gewalthaltige Bücher heraussuchen, um über Gutenbergs Medium zu urteilen, es käme nichts anderes heraus als bei den Videospielen.

Wenn ich mir jedoch das Medium Fernsehen anschaue, wie es sich einem bundesdeutschen DVB-T-Nutzer aktuell darstellt: Da ist doch im Schnitt das Spielemedium wesentlich seriöser, hochwertiger und unterhaltsamer, trotz all der seichten Rette-die-Prinzessin und Töte-alle-Storys bei aktuellen Games. Und das wäre mein erstes Anliegen, liebe Leser und Spieler: Hört auf, euch für Schmutz- und Blut-Spiele mit Rambo-Tiefgang zu schämen. Spielt sie einfach nicht, empfehlt sie nicht weiter, wenn sie euch nicht gefallen. Aber ertragt, dass es sie gibt. Denn sie sind normal.

Modern Warfare 2 schadet nicht dem Spielehobby

Blutige Ballerspiele wie Modern Warfare 2 sind nicht, nicht, nicht schuld daran, dass es viele Menschen mittleren und höheren Alters gibt, die ein immer noch relativ neues Medium verdammen, zum Sündenbock für Schulmassaker erklären oder mit noch schärferen Gesetzen beschneiden wollen. Diese Menschen würden auch andere Gründe finden, schaut euch nur die frühen Indizierungen an (Raid over Moscow und Co.), über die man heute selbst bei der BPjM nur noch schmunzeln kann. Die Zeiten ändern sich, und so wird man auch eines nicht mehr allzu fernen Tages ebenso vorurteilsfrei über Spiele reden, wie über modernes Theater, Rap, modernen Kampfsport, klassische Oper und viele andere Dinge. Die Anführungszeichen beim Adverb des letzten Satzes habt ihr euch hoffentlich dazu gedacht, oder?

Merke: Über Medien wird eine Gesellschaft niemals derselben Meinung sein. Nicht zuletzt mein Glaube an die Wichtigkeit von Meinungs- und Kunstfreiheit lässt mich schreiben: Modern Warfare muss es -- natürlich nur für Erwachsene -- geben dürfen, und man muss es mit Genuss spielen dürfen, ohne dumm dafür angemacht zu werden. Was ich mit "dumm anmachen" meine, lässt sich einigen Kommentaren zu unserem Modern-Warfare-2-Test entnehmen. In denen sagen die geistig, kulturell und moralisch Übermächtigen den Hirn-, Moral- und Geschmacks-Zwergen (also allen, die MW2 gut finden), wie primitiv sie sind. Auch eine Form von Meinungsfreiheit.

Spaßig und widerlich zugleich

Dies alles vorweggeschickt: Ich mag die Art von Modern Warfare 2 nicht, auch wenn ich es überwiegend mit Spaß gespielt habe. Aber streckenweise finde ich es richtig widerlich. So etwas ist übrigens erlaubt, liebe Schwarz-oder-Weiß-Kommentierer: Ich darf dasselbe Spiel spaßig finden und widerlich, und das binnen Minuten. Mit "widerlich" meine ich nicht nur den bereits berüchtigten Flughafen-Level, in dem man (in der deutschen Version: passiv) miterlebt, wie eine Handvoll Terroristen binnen Minuten die Besucher eines ganzen Flughafenterminals ermorden. Diese Szene, so schlimm sie ist, scheint den reichlich hartgesottenen (man könnte auch sagen: pietätlosen) Designern von Infinty Ward als dürftiges Story Device zu dienen, den Angriff Russlands auf die Vereinigten Staaten im Spiel zu begründen. Nun ja.

Welche Story, welche Charaktere, welches Nachdenken?
Ich finde die Flughafenszene und manch andere Situation also widerlich, aber das gilt auch für viele Szenen in 24, in Der Soldat James Ryan und in vielen anderen Fernsehshows und Filmen. Oder in den Krimis, die meine Frau so gerne liest -- was sich da an menschlichen Abgründen auftut! Doch schlimme Szenen können auch zum Nachdenken anregen, Charaktere eine Entwicklung durchmachen lassen oder zumindest die Story vertiefen. Aber welche Story, möchte man angesichts des Schießbudencharakters von Modern Warfare 2 fragen. Welche Charaktere? Vor allem aber: Welches Nachdenken? Das ist das, was mich wirklich an Modern Warfare 2 stört: seine wortwörtlich hanebüchene Schlichtheit.

Schießbude statt Realismus

Modern Warfare 2 ist ein schizophrenes Spiel. Auf der einen Seite versucht es in den Departments Grafik und Sound wirklich alles, um euch moderne Kriegsführung als Infanterist hautnah miterleben zu lassen. Mit überzeugendem Erfolg! Dass das Spiel ständig zwischen russischer Eiswüste, dem Meer, den Favellas von Rio de Janeiro, dem amerikanischen "Herzland" sowie Washington D.C. hin- und herspringt, verwirrt mich einerseits, fasziniert mich mit seiner Abwechslung aber auch. Es hat einfach etwas, wenn russische Einheiten durch amerikanische Kleinstädte ziehen und alles in Schutt und Asche legen, wenn das Zentrum der Macht in Washington D.C. zur Kriegszone wird. Wünsche ich das den Amerikanern? Um Himmels Willen nein, niemals, in keinster Weise. Begeistert mich dieses "Was wäre wenn"-Szenario in einem Spiel? Aber hallo!

Doch auf der anderen Seite wird Krieg von MW2 eben überhaupt nicht real dargestellt. Verwundungen, Schmerzen, Leiden? Fehlanzeige. Passt wohl nicht in ein Spiel. Wieso eigentlich nicht? Es wird auch nicht das tatsächliche Chaos einer Schlacht beschrieben, über das es unzählige Zeugnisse echter Kriegsteilnehmer gibt. Natürlich ändern sich die Missionsziele immer wieder, überraschen uns immer wieder neue Skriptereignisse. Doch das nächste Ziel ist immer sonnenklar, wird auf der Karte eingeblendet samt Distanzanzeige. Durch all das angebliche Chaos bewegen wir uns von A nach B also wie ein Zug auf seiner Schiene. Vor allem die schiere Zahl an Gegnern, die ich (zwischen zwei Figuren hin- und herspringend) im Laufe des Spiels töte, ist selbst nach Maßstäben eines Rambo 2 oder Kill Bill oder anderen Knall-Köpf-und-Krach-Filmen außerordentlich. Sie geht in die Hunderte, wenn nicht sogar in die Tausende. Zwei Elitesoldaten töten mit Handfeuerwaffen innerhalb von einer Woche Hunderte oder Tausende von Gegnern? Was für ein kompletter Blödsinn. Genauso blödsinnig ist, wieviele gewaltbereite Gangster auf engstem Raum in einer Favella nur darauf warten, mir vor die Flinte zu laufen. Die Bretterbuden können keine Möbel enthalten, so vollgestopft mit Gangstern müssen sie sein.

Das ist übrigens etwas, dass mich auch an Dragon Age - Origins und zig anderen Spielen stört: Wann schafft es endlich mal ein Studio, die Anzahl von Kämpfen und getöteten Gegnern in einem Rollenspiel oder Actiontitel halbwegs glaubwürdig hinzubekommen? Fällt diesen Studios wirklich allen nichts ein, außer im Sekundentakt Gegner zu plätten, um für eine vernünftige Spielzeit zu sorgen? Stellt euch vor, in Büchern oder Filmen gäbe es derartige "Abschusszahlen" -- und dabei bringen es Italowestern, Herr der Ringe und Co. schon auf ziemlich viele Kerben im Colt- oder Schwertgriff.

Die Trivialisierung des Krieges

Mich stört an dem fehlenden Realismus von MW2 und Co., dass dies den Krieg trivialisiert und nur meine Drüsen und Reflexe anspricht, nicht mein Hirn oder mein Herz. Es müsste doch möglich sein, ein Spiel zu machen wie Der Soldat James Ryan oder die Serie Band of Brothers! Es muss auch gar nicht gleich ein brutal-philosophisches Kunstwerk wie Der schmale Grat sein, es darf gerne auf dem Popcorn-Level bleiben. Aber bitte so, dass es nicht jede meiner Gehirnzellen beleidigt. Wieso kein Spiel, das mich mit seinen Szenen schockiert. Das gleichzeitig actionreich ist und spannend. Das aber eben auch eine Story hat und Charaktere, deren Schicksal mir etwas bedeuten. In Modern Warfare gibt es namenlose Pappfigur-Kameraden, die jederzeit sterben dürfen, und es gibt drei, vier Compagnons, die unsterblich sind. Zu echten Begleitern werden sie nie, wir wissen nichts über sie, sie haben keine Gefühle, kennen keine Schmerzen. Diese Eindimensionalität macht mich fertig.

Es ist kein Wunder, dass Kriegsspielzeug [...] so beliebt ist.
Das Spielen (ich zähle Sport dazu) ist im Menschen tief verwurzelt. Kinder, Jugendliche und Erwachsene üben damit seit Urzeiten Strategien für das echte Leben ein -- oder kompensieren Dinge, die im echten Leben eben nicht so einfach zu bekommen sind. Das Gefühl von Macht beispielsweise. Der Triumph über einen Gegner. Aber auch Zielerreichung, Zusammenarbeit, Verarbeiten von Frust. Es ist kein Wunder, dass Kriegsspielzeug in Zeiten des Irakkriegs oder des "Stabilisierungseinsatzes" in Afghanistan so beliebt ist. Dass selbst Lego längst nicht mehr ohne "echt schießende" Roboter in Bausätzen auskommt. Auch Modern Warfare 2 passt als Spielzeug für Erwachsene ganz logisch in diese unsere Zeit. Was den Menschen beschäftigt, das taucht in seinen Spielen auf. Mehr steckt nicht dahinter. Und die größte virtuelle Gewalt ist mir unendlich viel lieber, als die geringste echte Gewalthandlung.

Aber, bitte, Activision-Blizzard beziehungsweise Infinity Ward: Gebt euch doch mehr Mühe dabei, Krieg nicht nur als Abfolge von Kimme-Korn-Abzug-tot nachzustellen! Eurer Hauptzielgruppe mag es vielleicht wirklich nur um das Schießbudenprinzip vor realistischem Hintergrund gehen. Aber ihr würdet sie doch nicht gleich verschrecken, wenn dabei auch liebgewonnene Kameraden sterben würden. Oder Zivilisten, denen ihr vorher einige Minuten gegönnt habt, um von Statisten zu Charakteren zu werden. Im Ergebnis hättet ihr ein Kriegsspiel, das neben dem Hochpuschen des Adrenalinspiegels auch Emotionen erzeugen könnte. Und das den, der dafür emfänglich ist, auch zum Nachdenken anregen könnte. So aber ist Modern Warfare ein Spiel, dass sich seine hohe Note (bei uns und anderswo) mit technischer Brillanz, mit der kunstvoll erzeugten Spannung und mit der Befriedigung von Abzugsfingerreflexen verdient. Das vor allem im Multiplayer-Modus viel Raum für den sportlichen Wettkampf via Internet lässt. Das aber in seiner Solo-Kampagne unfassbar schlichten Gemüts ist. Und völlig belanglos.

Euer Jörg Langer
Abfuehrung
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