Heinrich Lenhardt entlarvt:

Der Taliban-Etikettenschwindel Meinung

Seit grauer Computerspielevorzeit berichtet Heinrich Lenhardt über unser aller liebstes Hobby. Happy Computer, Powerplay, PC Player, PC Extreme und Buffed sind nur einige seiner bisherigen Wirkungsstätten. Von seinem neuen Websiteprojekt heldendaten.de konnten wir ihn lange genug ablenken, um die folgende Kolumne möglich zu machen...
Heinrich Lenhardt 9. Oktober 2010 - 12:35 — vor 13 Jahren aktualisiert
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In den Harry-Potter-Büchern ist die Furcht vor dem Oberbösewicht Voldemort so groß, dass die meisten Personen nicht einmal dessen Namen aussprechen wollen. Also nennen sie ihn „Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf“, wobei natürlich jedem klar ist, wer damit gemeint ist. Auf das Prinzip „Voldemort“ musste Electronic Arts auch beim nächste Woche erscheinenden Shooter Medal of Honor zurückgreifen. Im Multiplayer-Spielmodus trifft die US-Armee nicht mehr (wie lange Zeit angekündigt) auf ein „Taliban“-Team, sondern auf eine anonyme „gegnerische Streitmacht“ („Opposing Force“). Schlichtes Umbenennung-Makeup aufgrund hochgeschaukelter Entrüstungswogen, ohne etwas an den Spielinhalten zu ändern.
 
Räuber und Gendarm

Noch im August hatte EA-PR-Managerin Amanda Taggert mit „Räuber und Gendarm“-Vergleichen die provokante Rollenverteilung verharmlost: „Im Multiplayer-Modus von Medal of Honor muss jemand halt die Taliban spielen“. Also: Egal ob Räuber oder Taliban, es läuft doch alles aufs selbe raus; Namen sind nur Schall und Rauch. EA-Games-President Frank Gibeau verteidigte die Entscheidung gar als „kreatives Risiko“ und wolle keineswegs die „kreative Vision“ gefährden: „Bei EA glauben wir leidenschaftlich an Spiele als Kunstform“.
 
Der Provokationseffekt war offensichtlich eine kühl kalkulierte Komponente des Marketingplans. Als Feind hatte man die Modern Warfare-Reihe von Konkurrent Activision ausgemacht. Wenn man mit einem auf realistisch getrimmten Shooter und zeitgenössischen Kriegsschauplätzen über 20 Millionen Einheiten absetzen kann, weckt das gewisse Begehrlichkeiten. Also mottete EA  seine bisher im 2. Weltkrieg angesiedelte MoH-Serie aus und mühte sich redlich, noch moderner, realistischer und rundherum kriegerischer zu wirken.
 
Soldaten als Werbepartner

 
Erst letzten Montag wurde im amerikanischen Fernsehen ein bezeichnender Werbespot im Rahmen der Reichweiten-starken Sportübertragung „Monday Night Football“ ausgestrahlt. Echte Soldaten, die bei der Spielentwicklung als Berater mitwirken, traten mit aus Sicherheitsgründen verpixelten Gesichtern und verzerrten Stimmen vor die Kamera. Ein „authentisches Spielgefühl“ wurde angepriesen, die Afghanistan-Veteranen wollen Verständnis dafür wecken, „worum es hier geht, was hier passiert“.
 
Mein Sohn konnte nicht noch mal von vorne anfangen, als er getötet wurde.
Große Worte für Gamepad-Geballer, bei dem der Heldentod kurz und schmerzlos ist. Was auf echten Schlachtfeldern passiert, lässt sich dagegen nicht eben mal so mit einem Respawn beheben. „Mein Sohn konnte nicht noch mal von vorne anfangen, als er getötet wurde; sein Leben war vorbei“, sagte Karen Meredith, die Mutter des in Afghanistan gefallenen Soldaten Ken Ballard dem TV-Sender Fox News. „Familien, die gerade ihre Kinder beerdigen, werden dieses Spiel sehen. Ein Videospiel basierend auf einem aktuellen Krieg ist respektlos.“
 
Zynismus der Kriegsstimmungs-Beschwörung

 
Der Zynismus der Kriegsstimmungs-Beschwörung alleine hätte kaum einen Medienwirbel in diesem Ausmaße entfacht. Aber im Multiplayer-Modus Spielern des „Taliban“-Teams virtuell die Möglichkeit geben, amerikanische Soldaten repräsentierende Spielfiguren abzuschießen, war dann doch etwas zu viel des Guten. Nach den verbalen Rückzugsgefechten des Sommers knickte Electronic Arts am 1. Oktober ein. Produzent Greg Goodrich erklärte, dass man Feedback von Freunden und Familienangehörigen gefallener Soldaten erhalten habe, „die ihre Sorge über die Aufnahme der Taliban im Multiplayer-Abschnitt unseres Spiels zum Ausdruck brachten“.  Aus Respekt vor diesen Stimmen werde man deshalb die Taliban in „Opposing Force“ umbenennen. Freilich räumt Goodrich im nächsten Satz ein, dass es sich dabei quasi um Etikettenschwindel handelt: „Diese Änderung hat keine grundsätzlichen Auswirkungen aufs Gameplay“.

Es handelt sich also nur noch um anonyme schlecht rasierte junge Männer mit Maschinenpistolen, die in afghanischen Landschaften auf US-Soldaten-Spielfiguren schießen. So einfach geht das! Niemand wird dabei noch an die Taliban denken, selbstverständlich. Und die Spieler werden nicht etwa im Chat sagen, "Spielst du 'nen Talib?", sondern politisch korrekt: "Übernimmst du die Rolle eines Angehörigen der gegnerischen Streitmacht?" Wer die Schrecken des Krieges als Marketinginstrument nutzen will, sollte vielleicht lieber konsequent bleiben und seine „künstlerische Vision“ auch durchziehen, als mit so einer läppischen Namensänderung eine Art moralische Wiedergutmachung betreiben zu wollen!

Nicht überzeugt ist jedenfalls die Leitung des Army & Air Force Exchange Service, eine für das Konsumwarenangebot auf amerikanischen Militärstützpunkten zuständige Institution. Auch nach einer neuen Prüfung aufgrund der „Ent-Talibanisierung“ bleibt sie bei ihrer Entscheidung, Medal of Honor in ihren Läden nicht zu führen und so das Spiel US-Soldaten nicht anzubieten, aus „Respekt vor denjenigen, die durch die andauernden realen Ereignisse von dem berührt sind, was hier als Spiel präsentiert wird“ (so Generalmajor Bruce Casella).
  
Euer Heinrich Lenhardt
 
 

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