Offener Brief von Mick Schnelle

"Lieber Christian Schmidt" Meinung

Nachdem ein langjähriger GameStar-Mann kurz nach seinem Ausscheiden aus Chefredaktion und Verlag auf Spiegel Online seiner eigenen Zunft gehörig die Leviten gelesen hat, fühlt sich ein noch dienstälterer Spieleredakteur zu einer Antwort genötigt. Das Wort hat Mick Schnelle, der mit Schmidt einige Jahre bei GameStar zusammenarbeitete.
Mick Schnelle 7. September 2011 - 11:21 — vor 12 Jahren aktualisiert
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Lieber Christian,

ich möchte dich beglückwünschen! Denn deine Kolumne (von Spiegel Online reißerisch zur "Abrechnung" erhöht) hat mich wirklich geärgert, wie kaum ein anderer Artikel in letzter Zeit. Warum? Weil er all das in den Dreck zieht, wofür ich, und zahllose fleißige Kollegen, seit 20, teilweise auch fast 30 Jahren arbeiten: verlässliche Spieletests für Genrefans zu verfassen, sie vor Fehlkäufen zu bewahren und ihnen zudem Monat für Monat (oder in den Zeiten von Online sogar Tag für Tag) ein spannendes und spaßiges Leseerlebnis über ihr Lieblingshobby zu bereiten. Ja, werter Christian, den letzten Satz solltest du dir ausdrucken und in deinem Elfenbeinturm an die Wand hängen. Das Wort "Lieblingshobby" solltest du vielleicht noch unterstreichen.
 
"Videospiele sind auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft"
So, so, Videospiele sind also auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft. Und was soll uns das sagen? Dass du selbst die Schmuddellecke "Spiele-Fachzeitschrift" endlich hinter dir lassen kannst? Oder meinst du damit etwa, dass es immer mehr Spieler gibt, die allesamt ein Magazin brauchen? Denen man am besten noch ein paar Lifestyle-Artikel bietet, damit auch Mitte-der-Gesellschaftsleser was vom Heft haben? Nein, lieber Christian, dem liegt ein gewaltiger Denkfehler zugrunde.

Autos haben schon lange den Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden, dennoch würde niemand einer Auto, Motor, Sport, einer Auto Bild oder den Autotests bei Spiegel Online vorwerfen, dass sie sich ausgiebig mit den technischen Daten der Wagen beschäftigt, Vergleiche mit Konkurrenzmodellen anstellt oder Fachausdrücke verwendet, um ihre Leserschaft zu informieren. Denn: Es sind immer nur Enthusiasten, die sich für eine Fachzeitschrift interessieren. Welcher Social-Gaming-Facebook-Freund braucht denn eine eigene Zeitschrift um dreimal am Tag bei Mafia Wars irgendwas anzuklicken? Welcher Wimmelbild-Fan eine Komplettlösung?
 
"Die Redaktionen irren, wenn sie diese
Ultras als ihre Kernklientel verstehen"
Die, die ich Enthusiasten nenne, nennst du Hardcore-Gamer und, schlimmer noch, verächtlich "Ultras". Ultras ist übrigens ein Begriff, der für die teils gewaltbereiten Elemente unter Fußball-Fanatikern gebraucht wird -- du scheinst Core Gamer ja wirklich so mal gar nicht zu mögen! Ich nenne die Adressaten von Spieletests hingegen meine Zielgruppe. Das sind die Jungs und Mädels, oder, wir werden alle älter, Männer und Frauen, die gern am PC oder mit Konsole spielen. Die aber nicht bei ein paar Minuten Sims Social hängenbleiben, sondern sich mit ihren Spielen intensiv auseinandersetzen. Die das gern machen, allein, mit mehreren, als Hobby. Diejenigen, die wissen wollen, was als nächstes kommt. Diejenigen, die aber auch darauf achten, dass sie keinen Ramsch kaufen. Dazu gehört aber auch der Unterhaltungsaspekt.

Der Schlüssel zum erfolgreichen Spielejournalismus heißt: „Von Freunden für Freunde.“ Die Freunde sind dabei aber nicht etwa die Industrie-Heinis, sondern die Leser. Die Leser begreifen die Redakteure gern als Kumpels, die ihnen Rat erteilen, an deren Meinung sie sich auch mal reiben, und die sie gleichzeitig auch unterhalten. Man muss seine Leser schon mögen, Christian, und sich keine andere Zielgruppe herbeierträumen, nur weil man sich selbst vielleicht schämt, bei abendlichen Stehempfängen auf die Frage nach dem Beruf "Naja, ähm, Spiele testen halt..." sagen zu müssen.
 
Unsere Leser, das sind die Menschen, über die sich der bereits "in der Mitte der Gesellschaft angekommene" Sender RTL lustig macht. Das sind die Leute, die stundenlang abwarten, um auf der Gamescom Diablo 3 für ein paar Minuten spielen zu können. Das sind Enthusiasten wie wir, Menschen die Hefte kaufen und Artikel mehrfach lesen. Wer auf die "Mitte der Gesellschaft" schielt, hat nicht genügend Selbstbewusstsein, zu seiner (sehr großen!) Nische zu stehen. Klar, wir wollen alle "dazu gehören", nicht die Minderheit sein und so weiter. Aber muss man sich deswegen schämen, nicht fürs Feuilleton zu schreiben, sondern für ein Fachmagazin und ein Fachpublikum?
 
"Spieletests verlieren ihren Servicewert"

Lieber Christian, Spielepreise liegen, vielleicht hast du es nach vielen Jahren der kostenlosen Bemusterung vergessen, zwischen 40 und 50 Euro beim PC, Konsolenspiele irgendwo zwischen 60 und 70 Euro. Ja, F2P ist am Kommen, ja, zu Cent-Beträgen verkaufen sich manche iPhone Apps multimillionenfach. Aber wir reden hier doch von richtigen Spielen, von Spielen für Enthusiasten!
 
Für die meisten Spieler sind 40 bis 70 Euro kein Pappenstil. Und wer kauft schon gern einen hochgradig beworbenen Mist, bei dem der Marketingabteilung mal wieder der Gaul durchgegangen ist? Und genau da sind Fachmagazine nach wie vor unendlich wichtig. Von uns werden gute und vor allem über Jahre verlässliche Wertungen erwartet, die den Test of Time überstehen. Die Einordnung eines Titels in einen lebendigen, funktionierenden Wertungskanon, sprich Wertungstabellen. Auch wenn das von Publisherseite gern vehement bestritten wird. Aber dann frage ich mich, warum sind diese Herrschaften immer so heiß darauf, die Wertungen zu erfahren und darüber rumzudiskutieren?
 
Dieses Wissen ist eigentlich völlig logisch, es ist nur bei der einen oder anderen Redaktion seit Jahren sträflich vernachlässigt worden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mir vor fünf Jahren aus der neuen GameStar-Chefredaktion der Satz "Wertungen sind unwichtig" um die Ohren gehauen wurde. Dieser Weg wurde seitdem konsequent fortgesetzt. Fehlwertungen größerer und großer Titel häuften sich just in diesem Magazin. Wir alle erinnern uns an The Witcher, das Silent Hunter 5-Debakel oder die Gothic 3-Lobhudelei, um nur einige zu nennen. Dass so etwas vom Zielgruppenleser (also deinen als "Ultras" Geschmähten) auf Dauer kaum goutiert wird und letztlich zu Abwanderungen führt – wen wundert's.
 
"Stundenlöhne wie im Reinigungsgewerbe"

In diesem Bereich deines Traktats hast du völlig Recht. Was heutzutage für Artikel bezahlt wird, ist erbärmlich und hat Leute wie mich dazu gezwungen, sich einen anderen Brot- und Butterbereich zu suchen. Das Spieletesten nur noch als schönes Hobby fortzusetzen. Und die Ersetzung richtiger Redakteure durch Praktikanten in vielen Redaktionen ist ähnlich erbärmlich.

Was ich nicht verstehe: Bis vor wenigen Wochen warst du selbst Teil dieses Systems und als Mitglied der Chefredaktion von GameStar an einer Stelle tätig, wo du dich über Jahre hinweg für Änderungen hättest einsetzen können. Vielleicht ein höheres Budget für freie Autoren erstreiten. Vielleicht dafür sorgen, dass aus Praktikanten durch gezielte Ausbildung kompetente Redakteure werden. Eine Ausbildung, für die übrigens meines Wissens bei GameStar du verantwortlich warst. Wie dem auch sei: So wurde es zumindest früher gemacht, und so hat sich das auch sehr bewährt. So funktioniert nun mal das Fachredakteurstum. Das sind stets Spezialisten, die den journalistischen Teil quasi dazu lernen. Und meist keine "gelernte Schreiber", die sich herablassen, in die Niederungen des Fachjournalismus hinabzusteigen.
 
Zu meiner Zeit als Jungredakteur wurden Neueinsteiger übrigens jahrelang zur Bayerischen Journalisten-Akademie geschickt, damit sie diese fehlenden Teile des Handwerks lernen. Macht Ihr das heute nicht mehr? Und wenn ja, warum nicht? Du hattest es jahrelang in der Hand. Dass du nach deinem Ausstieg bei GameStar jetzt so drauf eindrischt, finde ich als jemand, der auch mal ein paar böse Worte über die IDG-Geschäftsleitung verloren hat, dennoch merkwürdig.
 
"Unfähigkeit zur Reflexion"
 
Und zum Schluss das, was mich am meisten an deinem Artikel stört: Du arbeitest damit nur den "Elitären" zu, die unsere Branche schon immer für Kinderkram gehalten haben und mit ihrer kollektiven Arroganz auf uns Spieleheimer herabsehen. Spiegel Online ist eines der führenden deutschen Leitmedien. Was man dort veröffentlich, verschwindet nicht in irgendwelchen Fanblogs, sondern bleibt und beeinflusst tatsächlich die Mitte der Gesellschaft. Weil daraus zitiert w
Anzeigen/v
erden wird. Schon allein deswegen, weil die "allgemeinen Medien" schon Blödsinn wie "Killerspiel World of WarCraft" unrecherchiert voneinander abschreiben.
 
Statt deiner vereinten Kollegenschaft „schwaches journalistisches Niveau“ und „Unfähigkeit zur Reflexion“ vorzuwerfen, wäre etwas Demut angebracht gewesen, und die Fähigkeit, eigene Fehler aufzuarbeiten. Damit meine ich gar nicht mal so sehr dein persönliches Unvermögen, Spiele zu sezieren, in die Spielmechanik hineinzukriechen und stets zu versuchen, den Geist des Spiels zu erkunden, wie es aus meiner Sicht jeder Spieletester tun sollte. Schon klar, dass dir diese Art des Arbeitens gegen den Strich läuft, da du so gerne die großen Zusammenhänge erkennen und darlegen möchtest, möglichst noch mit einem humanistischen Einsprengsel hier und gehobener Populärkultur-Kritik da. Das alles sei dir unbenommen, es macht zum Beispiel deine Reports sehr lesenswert! Nein, dein Fehler ist die Verachtung deiner eigenen Zunft, deren Vertreter und – das finde ich das Schlimmste – deiner langjährigen Leserschaft.
  
Dein Mick Schnelle 

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05.08.2011
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Mick Schnelle 7. September 2011 - 11:21 — vor 12 Jahren aktualisiert
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