Freakshow Folge 5

Digital – A Love Story User-Artikel

Daeif 5. April 2012 - 16:58 — vor 12 Jahren zuletzt aktualisiert
Hereinspaziert, hereinspaziert! Hier seht ihr die merkwürdigsten Computerspiele der Welt. Ob seltsame Genres, kuriose Szenarien oder einfach nur bodenlos schlechte Machwerke: In dieser Show kommt ihr aus dem Staunen nicht heraus!
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Heute, verehrtes Publikum, geht es ums Lesen. Was wäre die menschliche Zivilisation ohne Literatur? Bücher haben zweifellos die Welt verändert. Durch den Buchdruck wurden sie zum ersten Massenmedium überhaupt (zumindest, seitdem die Massen lesen konnten). Später kamen Zeitungen und Zeitschriften hinzu. Heute verlagert sich das Lesen immer mehr in den digitalen Raum.

Jetzt werdet ihr euch sicher fragen: Was zur Hölle hat der Mist mit Computerspielen zu tun? Computerspiele sind schließlich ein visuelles, akustisches und vor allem interaktives Medium. Aber ein Literarisches? Aber hallo! Im Mainstream ist das natürlich nicht mehr vorstellbar. Hat sich jemand Call of Duty schon mal textbasiert vorgestellt? Wäre damals wohl nicht so der Renner geworden.

Ein Spiel ohne Grafik?!

Geschichtskundige Gamer wissen natürlich von einem Genre namens Textadventure. Das hatte wirklich fast nichts außer Text zu bieten. Eventuell ein paar ASCII-Bildchen, das war es dann aber schon mit der Visualisierung. Besagte Gamer wissen auch, dass das Genre längst ausgestorben ist, sieht man von ein paar Hobbyprojekten ab. Doch halt, die Situation stimmt nur, wenn man sich auf den Westen beschränkt. In Japan veränderte sich das Genre zwar auch, ist aber noch deutlich näher dran als zum Beispiel Point-and-Click-Adventures. Das Genre wird Visual Novel genannt und erfreut sich im fernen Osten extremer Beliebtheit. Da die Japaner allerdings nun aus dem Genre ihr „eigenes Ding“ gemacht haben, gab es keine konkrete Rückwelle auf die westliche Welt. Bisher nahmen sich nur eine Handvoll Indie-Entwickler in Europa und Nordamerika dieses Genres an. Einer dieser Versuche ist Digital – A Love Story der Indie-Entwicklerin Christine Love (also ein doppeldeutiger Titel).

Digital – A Love Story ist allerdings dann auch wieder keine klassische Visual Novel, aber genau das macht es so interessant für die Freakshow. Klassische Visual Novels sind meist sehr stark illustriert (daher der Name), natürlich im Manga-Stil, da der Großteil ja aus Japan kommt. Das Spiel liefert kaum Bilder oder Animationen, statt dessen simuliert der Titel eingeschränkt die Arbeitsoberfläche eines 80er-Jahre-Heimcomputers (im Spiel Amie genannt). Damit kommt Digital – A Love Story echten Textadventures noch näher als es bei den meisten Visual Novels der Fall ist, lediglich ein Parser fehlt.

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Die Bulletin Board Systems sind quasi die Schauplätze von Digital - A Love Story. Hier tauscht ihr euch mit anderen Usern aus und kommt so an neue Informationen.
Wie kann man das Simulieren eines Workbenches als Spiel bezeichnen? Im Grunde geht es nicht um die Oberfläche, sondern um das Internet. Das existiert im Jahr 1987 (dem Jahr der Rahmenhandlung) bereits, wenn auch in äußerst limitierter Weise. Die Story dreht sich darum, dass ihr (ja, ihr seit direkt gemeint; vor Spielstart wird euer Realname gefordert) von eurem Vater das Equipment für einen Internetzugang erhaltet. Von nun an dient euch das Cyberspace der 80er-Jahre  als Schauplatz. Dazu loggt ihr euch in so genannte BBS (Bulletin Board Systems, Vorläufer von Foren) ein. Wie macht man das in dieser Zeit? Durch das Wählen von Telefonnummern natürlich. Jedes BBS verfügt über eine solche Nummer. Und damit die Illusion perfekt ist, erklingen bei jedem Einwahlvorgang die bizarren Töne, die ein damaliges Modem von sich gab. Nix mit WLAN und DSL.

Jedenfalls beginnt hier euer großes Abenteuer. Ihr erhaltet Mails von den BBS, denen ihr wiederum eine Antwort schickt. Diese Antwort dürft ihr nicht selbst beeinflussen, sie erscheint fast immer noch nicht einmal auf dem Bildschirm. Das ist auch schon ein Großteil des Gameplays: Nachrichten erhalten, lesen, antworten, Nachrichten erhalten... Wahnsinnig spannend. Da gibt es noch so ein Mädel namens Emily, mit dem ihr über Gedichte plaudert und irgend ein Gefühlschaos... na ja. Schon will man das Spiel aufgeben, da ereignet sich plötzlich etwas: Das erste BBS, das ihr kennen lernt, wird von einem mysteriösen Virus heimgesucht. Damit verliert ihr auch den Kontakt zu Emily, die euch gerade eure Liebe gestanden hat.

Hier kommt die Story endlich in Fahrt. Von nun an lasst ihr nicht locker, bis ihr herausgefunden habt, wer hinter dem Anschlag steckt und wie ihr wieder Kontakt zu Emily bekommt. Und man glaubt es kaum, selbst einige spielerische Raffinessen begegnen euch nun. So erhaltet ihr im Laufe des Spiels einige nützliche Tools wie ein Programm, das funktionierende Passwörter generiert. Mehr nötig als nett ist ein Notepad, mit dem ihr die Übersicht über Telefonnummern, Passwörter und C0dez (nein, kein spontaner Anflug von Coolness, das wird wirklich so geschrieben) behaltet. Rätsel sind dagegen verdammt rar gesät. Bei einer der seltenen Kopfnüsse müsst ihr euch etwa selbst ein Passwort herleiten.

Fazit

Ihr seht also schon, mit einem Computerspiel hat Digital – A Love Story nur noch wenig gemein. Rätselnieten dagegen lassen die Sektkorken knallen, denn die erfreuen sich an der dann doch überraschenden und wendungsreichen Story, der es auch an Gags nicht mangelt. So wird über William Gibson und die Serie Star Trek – Das nächste Jahrhundert gelästert, und auch Trolle scheinen damals schon existiert zu haben. Leider ist das volle Potenzial eines digitalen Romans nicht genutzt worden. Alternative Enden wären zum Beispiel recht schön gewesen, denn so hält sich der Wiederspielwert des etwa 3-5 Stunden andauernden Spiels arg in Grenzen.

Wer mal einen irren Nostalgietrip in die Vergangenheit unternehmen und dabei eine sensible, intensive Story erleben möchte, der sollte Digital – A Love Story durchaus mal antesten. Und wem der Erzählaspekt des Spiels gefällt, der kann sich gleich auch Don't take it personally, babe, it just ain't your story näher anschauen. Das Spiel ist ebenfalls von Love, lehnt sich aber mehr an klassische Visual Novels an (inklusive Manga-Figuren). Fans von knackigen Rätseln oder Menschen, die nicht viel Text in Spielen lesen mögen, sollten aber eher die Finger davon lassen.

Damit schließt die Show für heute. Kommt auch das nächste Mal wieder vorbei, wenn ihr die kuriosesten und merkwürdigsten Titel der Spielwelt erblicken wollt. Ich bin euer Gastgeber Däif und sage euch: krrrrrrrrrühühühühühühü...
Daeif 5. April 2012 - 16:58 — vor 12 Jahren zuletzt aktualisiert
Darth Spengler 18 Doppel-Voter - 9372 - 5. April 2012 - 18:51 #

Achja die gute alte Pionierzeit.

Drapondur 30 Pro-Gamer - - 161744 - 5. April 2012 - 21:26 #

Interessantes Konzept. Werd ich mir mal bei Gelegenheit anschauen.

Madrakor 18 Doppel-Voter - - 10544 - 6. April 2012 - 4:28 #

Nanu. Klingt seltsam, und doch interessant. Schön geschrieben übrigens, danke!

Passatuner 14 Komm-Experte - 2458 - 6. April 2012 - 13:38 #

BBS != Internet

Wuslon 20 Gold-Gamer - - 21567 - 6. April 2012 - 13:48 #

Super geschriebener Artikel, das Spiel is dann aber doch nix für mich.

LuNaTiCsOuL 17 Shapeshifter - 6555 - 6. April 2012 - 22:36 #

Nettes Spiel, hat Spass gemacht.

retrozocker 13 Koop-Gamer - 1341 - 7. April 2012 - 19:56 #

Schöner Artikel.Mehr Retro-Themen bei Gamers Global

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Christine Love
Christine Love
01.02.2010
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6.7
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