Todkäppchen und der Elch

The Missing - J.J. Macfield and the Island of Memories Test+

Hagen Gehritz 28. Oktober 2018 - 12:00 — vor 3 Jahren aktualisiert
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Ein kryptischer Anruf von Emily. Andere Figuren lernen wir komplett nur über Chatverläufe kennen.
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Sprechertext zu The Missing - J.J. Macfield and the Island of Memories

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Hallo, Gamer dieser Welt! Hier ist Hagen Gehritz für GamersGlobal mit dem Test zu The Missing - J. J. Macfield and the Island of Memory von White Owls. Der groteske Indie-Puzzle-Plattformer mit 3D-Grafik aus der Seitenansicht entsprang dem Hirn des exzentrischen Hidetaka Suehiro. Der bescherte der Welt unter seinem Künstlernamen Swery schon das kuriose Adventure D4 und das kultig-trashige Deadly Premonition. The Missing paart charakteristische Bizarrheiten und Humor des Designers mit einer tiefdüsteren Prämisse: Auf der Suche nach ihrer Freundin Emily wird Heldin J.J. von einem Blitzschlag verbrannt, doch ein elchköpfiger Arzt verleiht ihr magische Regenerationskräfte.

Ihre neue Fähigkeit nutzt J.J., um die Hindernisse auf der Insel der Erinnerungen zu überwinden. Anders gesagt: Sie lässt sich immer wieder übel zurichten. Sie rollt mit ihrem abgeschlagenen Kopf durch kleinste Nischen oder kehrt die Schwerkraft um, indem sie sich das Genick bricht. Durchdachtes Motiv oder plumpe Effekthascherei?

Der grundlegende Spielablauf ist vergleichbar mit Limbo. J.J. hüpft und klettert von links nach rechts. Die eingängige Knopfbelegung beschränkt sich auf Springen, Kauern und Heilung. Dazu kommt ein kontextabhängiger Aktionsknopf, um etwa Kisten zu schieben. The Missing bringt genug Präzision für seine Geschicklichkeitspassagen mit, aber das Bewegungsgefühl leidet etwas unter der leicht groben Kollisionsabfrage und fehlender Feinkontrolle bei Sprüngen. Die Umgebungsrätsel sind stets selbsterklärend: In einem frühen Kapitel etwa nutze ich ein vorstehendes Brett über einem Graben als Brücke zu einem niedrigen Durchgang. Ich brauche aber ein Gegengewicht, damit die Platte nicht in die Grube kippt. Die blutige Lösung: Ich werfe mich ein paar Mal in eine nahe Stachelfalle, platziere meine abgetrennten Extremitäten entsprechend und krieche zum Durchgang.

In späteren Kapiteln der zwischen vier und sechs Stunden langen Inseltour sind die Lösungswege verschlungener. Gerade einige optionale Rätsel für die sammelbaren Donuts können wortwörtlich einiges Kopfzerbrechen bereiten. Für Abwechslung sorgt The Missing mit absurden Logikrätseln sowie Fluchtsequenzen, die aber in fieses Trial and Error ausarten. Außerdem motiviert die Variation der Spielmechaniken: So brauche ich Feuer anfangs nur, um mit der brennenden J.J. Hindernisse einzuäschern. Später in dunklen Gebieten wird das arme Mädchen dann zur menschlichen Fackel.

Die grafische Gewalt verfremdet The Missing indem J.J.s Blut weiß leuchtet und ihr Körper bei Verletzungen zu einem Schatten verschwimmt. Auch Überzeichnung nimmt dem brutalen Gameplay einige Spitzen, wenn zum Beispiel eine Abrissbirne J.J. cartoonreif durch Wände schleudert. Die Soundkulisse schont dagegen den Spieler wenig: Die teils schauerlichen Schmerzensschreie und ekligen Schmatzgeräusche setzen einen Kontrapunkt, der die Gewalt wieder aus dem Lächerlichen ins Groteske zurückreißt.

Akustisch gefiel mir die Entscheidung, den Spieler mit Umgebungsgeräuschen allein zu lassen und damit den seltenen Einsatz von Musik umso wirksamer zu gestalten. Die Sprachausgabe hinterlässt dagegen einen zwiespältigen Eindruck. Die Zeilen von Erscheinungen sind auf einprägsame Art verzerrt, doch die normalen Dialoge klingen sehr hölzern. The Missing besitzt dabei lediglich eine englische Tonspur und auch keine deutsche Lokalisation der Texte.

Besonders auf visueller Ebene lässt zudem die Produktionsqualität zu wünschen übrig. Die auf Unity basierende Grafik hat teils dermaßen matschige Texturen, dass ich unwillkürlich meine Brille suchen möchte. Hebe ich einen Stein auf, so schwebt der gut sichtbar über den Boden in J.J.s Hand. An den abwechslungsreichen Gebieten der Insel gefielen mir ihre eher subtilen unwirklichen Elemente im Hintergrund der Todesfallen und absurden Monster. Neben dem wiederkehrenden Elchdoktor war da zum Beispiel dieser Kronleuchter, der in einem kleinen Diner einfach fehlplatziert ist. Alle interaktiven Objekte hingegen fügen sich durch ihre grellorange Farbkodierung etwa so dezent in die Umgebung, wie ein Nudist auf einer Modenschau.

Bleibt die Frage: Hat das Ganze nun am Ende einen Sinn oder sind Gewalt und Bizarrheiten reiner Selbstzweck? Nach den ersten zwei Stunden scheint es noch so. Obwohl die Geschichte anders als bei Limbo direkt präsentiert wird, stehen nach dem Prolog zunächst die Rätsel im Vordergrund. Der Plot schwebt im Nichts, Emily taucht so gut wie nicht auf. Über das Aufsammeln der erwähnten Donuts und den Spielfortschritt schalte ich aber Messengerverläufe von J.J. mit Freunden und Familie frei. Die führen langsam an die Handvoll verschiedener Figuren sowie das Innenleben der Protagonistin heran und beleuchten Themen wie Persönlichkeitsentfaltung und Liebe – ob nun zu Menschen oder für Hobbies. The Missing streut so über Texte und Symbole erste Hinweise.

Die im Mittelteil vermisste Inszenierung finde ich im Schlussakt. Swery hat den Großteil seines Pulvers gespart, um im Finale ein umso größeres Feuerwerk zu verschießen. Die Auflösung von J.J.s Passion ist zwar sehr klar, lässt jedoch noch Interpretationsraum. Das gilt ebenso für die Deutung der Gewaltmotive. Doch auch bei der Inszenierung schmälern Ungeschliffenheiten die Wirkung. So schwebten auf dem Höhepunkt der Handlung in der von mir getesteten PC-Fassung Charaktere unbeabsichtigt durch den Äther, was ein Neustart behob. Nicht zuletzt ist das eigentümliche Swery-Design Geschmackssache. Auch The Missing weißt Stilbrüche auf, etwa wenn eine eben noch in Tränen aufgelöste J.J. im nächsten Moment eine Nachricht in Form eines Memes an ihr lebendig gewordenes Stofftier sendet.

Damit komme ich zur Wertung: The Missing - J.J. Macfield and the Island of Memory hat gute Chancen, den Spieler in der ersten Stunde zu verlieren: Den interessant surreal gestalteten Gebieten zum Trotz ist die Grafik scheußlich. Bei allen Vorteilen des Sounddesigns: Die Sprecherinnen von J.J. und Emily strahlen so viel Natürlichkeit aus wie eine Beinprothese. Auch die Bizarrheit oder Gewaltfaktor mögen abschrecken, bei mir hat es Faszination für diesen grotesken Puzzle-Plattformer geweckt.

Und gerade der spielmechanische Kern von The Missing muss sich nicht verstecken: Die Rätsel haben dank des morbiden Themas Eigenständigkeit und stellen mich immer wieder vor interessante Herausforderungen. Die Mechanik war in sich so spaßig, dass die Spielzeit trotz Leerlaufphase in der Mitte auf mich nicht unnötig gestreckt wirkte. Die späteren Verfolgungsjagden übertreiben es definitiv mit dem Trial and Error, aber zu dem Zeitpunkt war ich in J.J.s Reise emotional investiert und wurde vom abgefahrenen Finale voll abgeholt. Das vertritt eine klare Position zu den Motiven der Geschichte und bietet eine Lesart für das grausame Gameplay an. Doch auch hier sei gesagt: Am Ende bleiben einige Ungereimtheiten, die sich nicht recht in die künstlerische Vision einfügen.

The Missing überzeugt also bei mir auf den Ebenen Spielmechanik und Handlung, krankt dafür merklich an seiner ernüchternden Produktionsqualität. In Zahlen gesprochen: 7.0 von 10 Punkten.
Beerdigt J.J. diese puppenhafte Leiche, erweist die Seele des Toten ihr einen Gefallen.
Hagen Gehritz 28. Oktober 2018 - 12:00 — vor 3 Jahren aktualisiert
Hagen Gehritz Redakteur - P - 174687 - 19. Oktober 2018 - 3:51 #

Viel Spaß beim Lesen, Sehen und Anhören!

Slaytanic 25 Platin-Gamer - - 62092 - 28. Oktober 2018 - 12:17 #

Ich habe es mal auf meine Steam-Wunschliste gesetzt, irgendwie haben die Spiele von Swery was. ;)

Drapondur 30 Pro-Gamer - - 161754 - 28. Oktober 2018 - 12:29 #

Interessante Idee.

scienceguydetl 15 Kenner - 2733 - 28. Oktober 2018 - 12:32 #

Ich hab es für die PS4. Der Publisher hat hier viel Mist gebaut, so dass man es in jedem deutschsprachigen Land bekommt, außer Deutschland selbst.

Zum Glück habe ich zusätzlich einen US Account. Da bekommt man es.Einen solchen Account lege ich ohnehin jedem PS4 Besitzer nahe. Es werden hierzulande viele tolle Indie Spiele auf der Konsole nicht veröffentlicht. So hat man mehr.

Zum Spiel. Es hat den Swery Charme, die Swery Mängel. Die Spielmechanik ist irgendwie saucool und nach einer Stunde weiss man, ob einem das Spiel zusagt. Ist das der Fall, kann man ungefähr weitere vier Stunden die Reise durch zocken.

Klein, aber fein. Ich empfehle es weiter.

roxl 18 Doppel-Voter - P - 12796 - 28. Oktober 2018 - 13:49 #

Sehr guter Test. Danke.

Evoli 17 Shapeshifter - 8858 - 28. Oktober 2018 - 14:52 #

Die Optik schreckt mich ehrlich gesagt doch ganz schön ab...

ADbar 18 Doppel-Voter - 10064 - 28. Oktober 2018 - 20:37 #

Soo schlimm finde ich die Grafik nicht. Aber verglichen mit den teils herrlich blumigen Ausführungen von Hagen, wirkt sie eher wie eine vertrocknetes Osterglöckchen, das sich an einen Weihnachtsstern schmiegt.

Hagen Gehritz Redakteur - P - 174687 - 30. Oktober 2018 - 0:40 #

Bei so einem formschönen Lob strahle ich glatt hell wie eine Lichterkette an einem brennenden Weihnachtsbaum.

Faerwynn 20 Gold-Gamer - P - 20270 - 28. Oktober 2018 - 19:11 #

Das klingt hinreichend abgefahren um es sich Mal anzusehen :)

TheRaffer 23 Langzeituser - P - 40298 - 28. Oktober 2018 - 20:29 #

Die Idee klingt durchaus faszinierend, scheitert für mich aber leider am Thema Puzzle.

vgamer85 (unregistriert) 29. Oktober 2018 - 13:31 #

Genauso wie bei mir :D

Noodles 26 Spiele-Kenner - P - 75314 - 29. Oktober 2018 - 1:11 #

Gutes Testvideo. :) Ich mag ja Puzzle-Plattformer. Und hab auch nix gegen Abgedrehtheit. Könnte also was für mich sein. ;)

Aladan 25 Platin-Gamer - P - 57121 - 29. Oktober 2018 - 7:06 #

Danke für den Test, Hagen. Sieht schon interessant aus.

Admiral Anger 27 Spiele-Experte - P - 83414 - 31. Oktober 2018 - 0:16 #

Irgendwie ja doch ganz schön eklig.

Ganon 27 Spiele-Experte - - 83905 - 3. November 2018 - 13:49 #

Das hat was. Muss ich mir mal merken.

Ganon 27 Spiele-Experte - - 83905 - 3. November 2018 - 13:50 #

Btw, im Steckbrief steht "Macfiled" statt "Mcfield".