Essays on Empathy

Essays on Empathy Test

Kommt ein schwuler Killer zum Floristen

Thomas Schmitz / 20. Mai 2021 - 13:54 — vor 2 Jahren aktualisiert

Teaser

Die Kurzspiele-Sammlung der Macher von The Red Strings Club erzählt schräge Geschichten und gibt Einblicke in die Entwicklung des Indie-Studios. Doch machen die Spielehappen auch Spaß?
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Alle Screenshots stammen von GamersGlobal
 
Spiele dauern heutzutage gerne einmal mehr als 50 Stunden, siehe Cyberpunk 2077 (im Test: Note 10), siehe Red Dead Redemption 2 (im Test: Note 9.5), siehe die letzten Einträge der Assassin’s-Creed-Reihe. Ganz zu schweigen von Rollenspiel-Kolossen wie Pathfinder – Kingmaker oder Divinity – Original Sin 2 (im Test, Note 9.0), die locker die 100-Stunden-Marke knacken. Da sind kurze Spiele geradezu eine Wohltat – besonders wenn man, aus beruflichen oder familiären Gründen, nicht so viel Zeit hat.
 
Bei Essays on Empathy stellt sich aber die große Frage, frei nach Herbert Grönemeyer: Wann ist ein Spiel ein Spiel? Fakt ist: Von den zehn Titeln in dieser Sammlung sind acht beim zweimal jährlich stattfindenden Game-Jam-Wettbewerb Ludum Dare entstanden.

Bei dem Game Jam haben die Entwickler maximal 72 Stunden Zeit, um ein Spiel zu einem bestimmten Oberthema fertigzustellen. Dass in diesen drei Tagen eher mundgerechte Spieletapas entstehen anstatt eine zutatenreiche Paella, dürfte jedem klar sein. Und so gibt Publisher Devolver Digital auch eine Gesamtspielzeit von rund fünf Stunden für die zehn Titel an. Ja, das sind schon mächtig kurze Spielehappen(ings).
In 11.45 A Vivid Life röntgt sich eure Spielfigur selbst, weil sie glaubt, ihr Skelett sei nicht ihres. 
 

Entwicklung eines Studios

Aber Essays on Empathy ist mehr als eine Spielesammlung. Es zeigt, wie sich der spanische Indie-Entwickler Deconstructeam, bei Pixelart-Indie-Fans bekannt für das cyberpunkige Story-Adventure The Red Strings Club (zum Test: Note 7.5), kontinuierlich weiterentwickelt hat.
 
Der älteste Titel, Underground Hangovers, entstand beim Ludum Dare 32 im April 2015 und ist ein waschechtes Metroidvania, in dem ihr in die Rolle eines Minenarbeiters schlüpft, dessen Firma ihn und ein paar Versprengte auf einem fremden Planeten zurückgelassen hat. Nun gilt es, mithilfe einiger ungewöhnlicher Werkzeuge genug Erz abzubauen, um daraus ein Raumschiff zu bauen. Einige knifflige Sprungpassagen und die fiese heimische Fauna erschweren das Ganze.
Underground Hangovers ist das älteste Spiel der Sammlung und ein Metroidvania – ein Exot im Gesamtwerk des Indie-Studios. 
 

Narration als wichtigstes Element

Underground Hangovers ist ein Exot in dieser Sammlung. Denn Deconstructeam veränderte danach seine inhaltliche Ausrichtung und setzt seitdem auf Narration als wichtigstes Spielelement. Aber es geht Programmierer und Spieldesigner Jordi de Paco, Grafikerin Marina González und Musikerin Paula „fingerspit“ Ruiz (die wieder einige großartige Musikstücke lieferte) nicht nur ums Erzählen an sich. Ihre Spiele beschreiten ungewöhnliche Wege, auf jede Aktion folgt eine Reaktion – und zwar nicht immer die erwartete.
 
In Zen and the Art of Transhumanism, dem Beitrag zum Ludum Dare 35 im April 2016, müsst ihr als Androidin Implantate für Kunden töpfern. Jedes Implantat hat bestimmte Auswirkungen mit Vor- und Nachteilen, und so mancher Kunde verflucht im Nachhinein seinen Wunsch, ein bestimmtes Bedürfnis zu stillen. Wem das jetzt bekannt vorkommt: Der Titel war als Minispiel Bestandteil in The Red Strings Club. Und auch der Hacker Brandeis und weitere Figuren aus dem im August 2016 entstandenen Detektivspiel Supercontinent Ltd tauchten in The Red Strings Club wieder auf - mitsamt des Stimmenmodulator-Minispiels vor der identischen Hintergrundgrafik.
Ähnlich der Cocktails in The Red Strings Club erstellen wir in Eternal Home Floristry Blumen-Bouquets mit diversen Wirkungen. 
 

Persönliches Innenleben

Bestandteil dieser Compilation sind nicht nur die Spiele selbst sowie Konzeptzeichnungen zu jedem Titel, sondern auch jeweils ein Video, in dem das Entwickler-Trio etwas über den Entstehungsprozess erzählt. Vielmehr geben die drei Entwickler aber Einblicke in ihr persönliches Innenleben. So erfahren wir, dass zwischen dem ersten vollwertigen Spiel Gods Will Be Watching (zum Test: Note 6.5) aus dem Jahre 2014 und The Red Strings Club aus dem Jahr 2018 zwei weitere Projekte gescheitert sind. Wir erfahren aber auch Privates: Etwa, dass Jordi de Paco und Marina González ein Paar sind, aber beide angefangen haben, die Trans-Frau Paula Ruiz zu daten.
 
Dieses Hintergrundwissen ist kein purer Tratsch, sondern dient tatsächlich dazu, die Beweggründe hinter den Spielestorys besser zu verstehen. Immer wieder geht es in den kurzen Titeln um Themen wie Identitätssuche. So glaubt eine junge Frau in 11.45 A Vivid Life, dass in ihrem Körper das Skelett einer anderen Person steckt. Also scannt sie sich mit einem mobilen Röntgengerät und nimmt mit einem Skalpell am eigenen Körper Operationen vor. Klassische Rollenbilder werden überspitzt, wenn ihr in Behind Every Great One eine depressive Hausfrau spielt, die in einem Hamsterrad gefangen ist und immer wieder zusammenbricht, während ihr egozentrischer Ehemann als Künstler gefeiert wird. Eternal Home Floristry ist ein Beispiel dafür, wie Stereotypen dekonstruiert werden. In dem Titel versteckt sich ein verwundeter schwuler Auftragskiller bei einem Floristen und wird in die Kunst des Blumenbouquet-Erstellens eingewiesen. Sexuelle Diversität und Polyamorie sind ebenso Bestandteile der Spiele, wie Nacktheit und Sex.
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Marina González (v.l.), Paula "fingerspit" Ruiz und Jordi de Paco geben in zehn Videos Einblicke in ihre Spiele und ihr Seelenleben.
Hagen Gehritz Redakteur - P - 174686 - 20. Mai 2021 - 12:53 #

Viel Spaß mit dem Test!

DerBesserwisser 17 Shapeshifter - P - 7897 - 20. Mai 2021 - 14:33 #

Vielen Dank für den Test eines etwas abseitigen Titels, war sehr interessant zu lesen.

Jürgen (unregistriert) 20. Mai 2021 - 14:42 #

Sehr spannender Test, vielen Dank.

Hannes Herrmann Community-Moderator - P - 42937 - 20. Mai 2021 - 18:38 #

Danke für den Test. Ich lebe meine Empathie dann doch lieber in Mortal Kombat 11 aus.

Noodles 26 Spiele-Kenner - P - 75314 - 20. Mai 2021 - 19:13 #

Von mir auch ein Danke für den Test. :) Ich hab von dem Entwickler nur Red Strings Club gespielt, das hat mir gut gefallen. Schade, dass sie in das Paket einfach nur die Game-Jam-Versionen gepackt haben, die man auch (bis auf das eine Exklusiv-Spiel) kostenlos spielen kann. Hätten sie an den Spielen noch was gemacht, hätte ich mir einen Kauf überlegt. Die Doku-Videos interessieren mich zu wenig für den Preis.

PraetorCreech 18 Doppel-Voter - P - 12881 - 20. Mai 2021 - 20:54 #

Vielen Dank für den Test.
Ich muss schon sagen, mich reizt der Titel irgendwie doch. Die kleinen Spielehappen, die zusammen mit den Videos mit dem "was soll das bedeuten" Erklärflair klingen interessant. Das ist kein Kinoabend mit Popcorn und Megaaction, das ist ein Sofaabend daheim mit Earl Grey und ZDFDoku.
Beides ist super, wenn man in der richtigen Stimmung ist. Für Essays on Empathy werde ich sicher irgendwann demnächst in der richtigen Stimmung sein.

StefanH 26 Spiele-Kenner - - 65052 - 20. Mai 2021 - 20:54 #

Danke für den Test! Das Konzept finde ich schon interessant, aber leider beschreibt Thomas genau das, was ich befürchtet hatte. Es ist alles zu kurz gekommen, da es ja nur 72 Stunden pro Spiel gab... Aber vielleicht machen sie ja wirklich mehr aus den Einzelteilen wie in Red Strings Club? Hoffen würde ich es ja :)

Ganon 27 Spiele-Experte - - 83902 - 20. Mai 2021 - 22:34 #

Interessant, was Thomas da wieder ausgegraben hat. Zumindest die Intention, gewisse Themen in Spiele zu verpacken, gefällt mir, das Ergebnis spricht mich aber leider nicht so an.
Dennoch danke für den aufschlussreichen Test.

Thomas Schmitz Freier Redakteur - P - 14354 - 20. Mai 2021 - 23:33 #

Ich gebe zu: Gegraben hat Hagen.

Q-Bert 25 Platin-Gamer - P - 56357 - 21. Mai 2021 - 0:24 #

Oh Mann, als bekennender Indie-Kuschler und Pixelgrafikfetischist müsste ich frohlocken, aber hier reizt mich irgendwie gar nix. Obwohl das Teaserbild durchaus nett aussieht.

Aber schön, dass es den Test hier gibt. Solche und ähnliche Projekte bekommen leider viel zu wenig Aufmerksamkeit und gehen neben den Valhallas und Cyberpunks (50 Stunden? Eher das Dreifache...) mächtig unter. Wenn es ein paar Gamer anspricht, dann hat es sich schon gelohnt, darüber zu schreiben.

euph 30 Pro-Gamer - P - 130121 - 21. Mai 2021 - 7:03 #

Interessanter Test, ich finde solche Aktionen immer ganz spannend und bin überrascht, was da in kurzer Zeit herauskommt. Klar, dass das in der Regel dann keine 9.0-Granaten werden können. Aber gerade das Stand-Up-Spiel hört sich interessant an.

Labrador Nelson 31 Gamer-Veteran - P - 266509 - 25. Mai 2021 - 13:39 #

Interessanter Einblick und eine erfrischend andere Herangehensweise. Hatte Spaß beim Lesen.