GC09: David Cage über Spieldesign für Erwachsene

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23. August 2009 - 20:20 — vor 14 Jahren zuletzt aktualisiert
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David Cage ist Leiter des französischen Entwicklers Quantic Dream, der im Jahre 2005 das Spiel Fahrenheit veröffentlichte. Genau wie das aktuelle Projekt Heavy Rain war Fahrenheit mehr ein interaktiver Film als ein Computerspiel.

Auf der GDC Europe hielt Cage eine Keynote über Spieldesign für Erwachsene. Laut Cage sind heute 80% der Spieler über 18 Jahre alt, das Durchschnittsalter betrage 35 Jahre. Außerdem seien 40% der Spieler weiblich. Trotzdem würde ein großer Teil der Computerspieleindustrie nur Spiele für 14-jährige Jungen entwickeln, Spiele in denen Rumfahren und Ballern die einzigen Inhalte seien und die keine richtige Geschichte erzählten. Er ist der Meinung, die Spielinhalte hätten sich in den letzten 20 Jahren kaum weiterentwickelt.

Emotionen

Primär geht es Cage um Emotionen. Diese teilt er in zwei Kategorien ein. Zum Einen gibt es die primitiven Emotionen wie Angst, Aufregung und Aggressivität. Bei diesen Gefühlen geht es ums nackte Überleben, um Adrenalin, darum, den Körper auf die Flucht vor einem Raubtier vorzubereiten. Auf der anderen Seite gibt es noch soziale Emotionen wie Freude, Traurigkeit, Mitleid, Eifersucht, Ärger, Schamgefühl - diese dienen vor allem dazu, eine Botschaft an andere Menschen zu senden. Die sozialen Emotionen seien später in der Evolution aufgetaucht und schwieriger auszulösen.

Kunst ist für Cage ein Emotionssimulator. Wenn Menschen ein Musikstück hören, ein Bild betrachten, einen Roman lesen oder einen Film sehen, dann löst dies bei ihnen Gefühle aus. Dies können positive oder negative Gefühle sein. Wichtig ist nur, dass Gefühle ausgelöst werden, auch negative Gefühle genießen wir in dieser Situation auf eine gewisse Weise (siehe den Film Titanic). Die meisten Kunstformen benutzen eine weite Palette an Emotionen.

Computerspiele seien in erster Linie auf die primitiven Emotionen ausgelegt. Es geht vielfach um Kampf, Wettbewerb, darum ein Ziel zu erreichen. Dies sei aus verschiedenen Gründen verständlich, da primitive Emotionen leicht auszulösen seien: Etwas düstere Musik und ein Monster das aus der Wand kommt, schon hat man seinen Schockeffekt. Primitive Emotionen funktionieren laut Cage besonders gut bei Teenagern, da diese stärker als Erwachsene auf Adrenalin reagieren. Sie wollen Risiken eingehen, schauen Horrorfilme und fahren mit Achterbahnen.

Außerdem funktionierten primitive Emotionen besonders gut mit den Interfaces heutiger Spiele. Soziale Emotionen seien viel schwieriger mit einfacher Spielmechanik auszulösen, bei der ein Charakter nur vier Interaktionsmöglichkeiten mit seiner Umgebung habe.

Bedeutung, Charaktere und Kunst der Spiele

Niemand schreibe einen Roman nur deshalb, weil er gerne schreibt. Wer einen Roman schreibe, der wolle eine Botschaft transportieren. Bei Computerspielen sei das anders, typischerweise würden belanglose Geschichten erzählt um die Actionsequenzen zu verbinden. Eine Botschaft gebe es nicht, der Spieler lerne nichts über sich selbst und die Welt.

Die erzählerische Struktur der Spiele sei ohnehin kaputt. In Romanen und Filmen werde die Geschichte durchgehend parallel zur Action erzählt. Bei Spielen finde die Handlung meist in Zwischensequenzen statt, man habe also abwechselnd einen Block Action, einen Block Handlung, dann wieder einen Block Action. Das einzige andere Medium mit einer solchen Erzählstruktur seien Pornofilme.

Im Vergleich mit Filmen und Romanen hält Cage die Charaktere in Spielen für Karikaturen. Man müsse direkt sehen, welche Eigenschaften sie haben (stark/schwach, gut/böse). Sie müssten ein einfach nachzuvollziehendes Ziel haben und für Teenager cool aussehen. Im Gegensatz dazu hätten Charaktere in Filmen einen Hintergrund, komplexe und glaubwürdige Motive, Beziehungen mit anderen Charakteren und machten im Laufe der Geschichte Veränderungen durch.  

Auch die Kunst der Spiele, vor allem bezogen auf den grafischen Stil, gefällt Cage nicht. Spiele sehen seiner Ansicht nach aus wie Spielzeug, sie seien vom Stil immer nur darauf ausgelegt, von Teenagern als cool empfunden zu werden. Im Vergleich zu Filmen entstehe so nur mittelmäßige Kunst.

Alte Vorstellungen über Bord werfen

Nur einige wenige Spiele seien heute Kunst, als Beispiele nannte er Ico, Shadow of the Colossus, Rez, Katamari und Flower.

Um dies zu ändern, sollten Spieldesigner sich von den etablierten Vorstellungen über das Spieldesign befreien. Sie sollten alle Emotionen nutzen, neue Themen für sich entdecken (außer Fantasy, SciFi und dem zweiten Weltkrieg), glaubwürdige Charaktere entwickeln und ihren Geschichten Bedeutung verleihen.

Insbesondere sollten sie sich auf ihre Kreativität besinnen und sich nicht von Trends beeinflussen lassen. Es sollte nicht interessieren, was sich jetzt gerade gut verkauft, da die Entwicklung eines Spiels Jahre dauere und die Marktsituation bei der Veröffentlichung sowieso eine völlig andere sei. Vor allem solle man niemals kreative Entscheidungen von Marketingleuten treffen lassen.

Es gäbe viele "best practices" des Spieldesigns, die immer wieder verwendet würden und niemals ausreichend hinterfragt worden seien. Warum zum Beispiel sollten Spiele am Anfang einfach sein und nach und nach immer schwieriger werden? Dies sei eine überholte Weisheit aus der Zeit der Spielhallenautomaten und führe heute nur dazu, dass viele Spieler das Ende des Spiels nicht erleben können - obwohl sie 70 Euro für das Spiel ausgegeben und das Spiel sicher gerne bis zum Ende gespielt hätten.

Generell sei erwachsenen Spielern der Aspekt des Wettbewerbs und des Erreichens von Zielen weniger wichtig als Jugendlichen. Das Spiel sollte eine Reise sein, die an sich schon Vergnügen bereitet. Der Weg sei das Ziel.

Neue Antworten finden

Viele Probleme bei der Entwicklung von Spielen für Erwachsene seien noch ungelöst. Wie entwickelt man Interfaces, die das Erzeugen sozialer Emotionen erlauben? Wie schafft man es, Interaktivität und Geschichte gleichzeitig stattfinden zu lassen? Bei Filmen und Romanen gebe es Erfahrungswerte und regalweise Bücher darüber, wie man eine Geschichte richtig erzähle, die Spielentwicklung stehe hier noch am Anfang.

Vor allem solle der Game Designer eine Stellung innehaben, die der des Autors eines Buches bzw. des Regisseurs eines Films entspricht - er solle wirklich die kreative Verantwortung haben und die Möglichkeit bekommen, seine Vision zu verwirklichen. Heute würden die meisten Designentscheidungen im Team getroffen und seien daher Kompromisse, obwohl eine extreme Entscheidung für das Endprodukt vielleicht viel besser gewesen wäre. Teamentscheidungen hätten auch den Nachteil, dass sie zu sehr von Marketingleuten beeinflusst würden.

Sandkasten oder Achterbahn

Eine wesentliche Frage sei, ob man sein Spiel eher wie einen Sandkasten oder wie eine Achterbahn designe. Den selben Vergleich hatte CCP-CEO Hilmar Veigar Pétursson in seiner Keynote ebenfalls verwendet.

In sandkastenartigen Spielen muss der Spieler selber aktiv werden. Das Spiel stellt nur eine Umgebung bereit, in der der oder die Spieler ihre Spielerfahrung schaffen. Dabei könne es sein, dass schöne Dinge passieren, so dass die Spielerfahrung sehr befriedigend sei. Da dies aber nicht vom Spieldesigner vordefiniert sei, könne man den Spielspaß aber nicht garantieren - es könne also auch sein, dass das Sandkastenspiel langweilig oder einfach nur unbefriedigend sei.

In Achterbahn-artigen Spielen ist die Spielerfahrung im Voraus genau geskriptet worden. Der Spieldesigner kann also abschätzen, was der Spieler wann erleben und wie er sich fühlen wird - und das ganze Spiel auf eine maximale Spielerfahrung hin optimieren. Andererseits hat der Spieler bei diesem Ansatz nur sehr wenig Freiheiten, es geht Interaktivität verloren.

Trotzdem ist Cage der Meinung, dass die Spiele für Erwachsene eher Achterbahn-artig sein sollten. Die meisten Leute seien berufstätig, hätten wenig Zeit und wollten daher beim Spielen eine Garantie für ein gutes Spielerlebnis.

Die Technik vergessen

Cage möchte sich mit Spieldesign beschäftigen und ist frustriert davon, wie viel Energie bei der Entwicklung eines Spiels in die Technik - die Engine - investiert werden muss. Er würde sich eine universale Engine wünschen, die für alle Spiele verwendet werden kann und nicht mehr angepasst werden muss.
 
Die Technik sei ein Werkzeug und nicht mehr. Niemand schreibe einen guten Roman, weil er einen tollen Stift habe.

Die Spielebranche sei hier noch auf dem Stand der frühesten Hollywood-Produktionen, als die Filmemacher für jeden Film die Kameras noch selbst gebaut hätten.

Stolz auf die Spielebranche sein

Die Spielemacher sollten außerdem stolz auf ihren Beruf sein. Dazu gehöre, dass man keinen Schrott produziere - wenn viel Schrott produziert werde, dann leide die öffentliche Wahrnehmung der gesamten Spielebranche. Man solle zeigen, dass man Kunst mache und nicht nur seichte Unterhaltung.

Viele der Probleme, mit denen Cage sich heute als Game Designer herumschlagen müsse, seien noch auf die Hot Coffee Mod für GTA San Andreas zurückzuführen.

Damals hatte das GTA-Spiel eine Sequenz enthalten, in der die Spielfigur interaktiv Sex mit seiner Freundin haben konnte. Die Sequenz war vor der Fertigstellung des Spiels deaktiviert worden und vom normalen Spiel aus nicht zugänglich, aber im Programmcode des Spiels noch enthalten. Dritte entwickelten eine Modifikation für das GTA San Andreas, mit der die Sequenz freigeschaltet werden konnte, was in den USA einen Skandal bis zur höchsten politischen Ebene auslöste: Die Alterseinstufung des Spiels wurde geändert, viele Händler nahmen es aus dem Programm, Hersteller Rockstar wurde von besorgten Eltern verklagt und musste empfindliche Strafen zahlen - und all das, obwohl die Figuren in der Sequenz nicht einmal nackt waren.

Cage betonte, er mache Spiele für Erwachsene, typischerweise hätten diese in den USA ein "17+"-Rating. Trotzdem sei eine Sequenz, in der eine junge Frau unter der Dusche stehe und für einen Moment lang - seiner Ansicht nach geschmackvoll inszeniert - etwas Brust zu sehen sei, in gewissen Ländern völlig undenkbar. Mehr noch, es dürfe nicht mal eine Textur im Spiel enthalten sein, die Brüste zeige, selbst wenn diese im Spiel gar nicht gezeigt werde - als Folge der Hot Coffee Mod.

Es könnte ja jemand die Textur aus den Spieldateien extrahieren, herausfinden in welchem Format sie gespeichert sei und sie sich dann anschauen. Als Lohn der Mühen würde derjenige dann eine platte Textur zu sehen bekommen - Texturen enthalten eben nur Farbinformationen und keine Erhebungen. Wer bitte findet das sexy? Cage ist der Meinung, dass man gewisse Leute mal darüber aufklären solle, dass es heute das Internet gibt, in dem man mit sehr viel weniger Aufwand an echte Fotos von Brüsten kommen könnte. Und sowieso, das Spiel sei für die Altersgruppe 17+ entwickelt, es sei doch recht unwahrscheinlich, dass man Menschen dieser Altersgruppe durch flüchtig sichtbare Brüste schockieren könne.

Das Ende der Geschichte: Die Entwickler mussten der Frau einen Badeanzug anziehen. Unter der Dusche. Wer bitte duscht mit Badeanzug?

Was Cage an der Sache aufregte war primär, dass die verschiedenen Medien mit unterschiedlichem Maß gemessen werden. Filme würden als Kunst betrachtet, daher sei eine entsprechende Sequenz in einem Film akzeptabel. Computerspiele betrachte man dagegen als Spielsachen, als Kinderspielzeug (auch wenn sie 17+ sind), als nicht ernst zu nehmen. Wer sich darüber beschwere, bekomme immer wieder das Argument zu hören, dass Spiele viel schlimmer als Filme seien, weil sie ja interaktiv seien und der Spieler aktiv Handlungen ausführe. Dass dies für den Jugendschutz relevante Effekte habe, könne aber keine Studie bisher nachweisen.

Die Spielebranche solle sich also darum bemühen, dass die Zensur auf ein normales Maß reduziert werde - so wie es bei Filmen der Fall sei.

Weggabelung

Cage schloss mit der Aussage, dass die Spielebranche an einer Weggabelung angekommen sei, an der sie sich über ihre Zukunft entscheiden müsse.

Eine Möglichkeit sei, den Weg der Comichefte zu verfolgen. Diese seien bei ihren anfänglichen Themen (hauptsächlich Superhelden-Geschichten) geblieben und würden damit nach wie vor ein Nischenpublikum ansprechen. Schlecht sei das prinzipiell nicht - die Verkaufszahlen seien seit Jahren stabil, allerdings sei der Markt sehr klein.

Andererseits könnten die Spiele den Filmen nacheifern. Sie könnten alle Emotionen der Rezipienten ansprechen, abwechslungsreiche Geschichten mit Bedeutung erzählen, sich aus der Nische lösen und sich so zu einem Medium entwickeln, dass auch in der Öffentlichkeit als Kunst betrachtet werde. Dies sei auch ökonomisch sinnvoll, da so ein viel größerer Markt bedient werde - der Markt der erwachsenen Spieler.

Armanuki 15 Kenner - 2918 - 25. August 2009 - 14:12 #

Da der Artikel so schon lang genug ist, lagere ich meine Meinung zum Thema mal in diesen Kommentar aus.

Ich denke, Cage hat viele gute Punkte. Ich bin selber 32-jähriger Gamer und merke, dass mich Vieles an den heutigen Spielen nicht mehr anspricht. Ich habe nicht mehr die Geduld, 50 Stunden in ein Spiel zu investieren und vor allem nicht die Geduld, Missionen mehrmals zu spielen, wenn ich sie im ersten Versuch nicht schaffe. Wenn ich ein Spiel nicht durchspielen kann weil ich hänge, dann betrachte ich die investierte Zeit in gewisser Weise als verschwendet - insofern fange ich viele Spiele gar nicht an, weil ich denke, dass ich sie eh nicht durchspielen werde.

Ich will in der Zeit, die ich in ein Spiel investiere gut unterhalten werden. Aufgaben, die die Länge des Spiels strecken, sind mit zutiefst zuwider. Ich gebe auch gerne 50 Euro für ein Spiel aus, das nur 10 Stunden lang ist, wenn diese 10 Stunden wirklich gut sind. Über diesen Punkt habe ich als Schüler noch ganz anders gedacht, damals wollte ich möglichst viel Spielzeit fürs Geld haben.

Auf auf gute Geschichten trifft man viel zu selten, außer Knights of the old Republic und den Final Fantasy Teilen erzählt kaum ein Spiel eine interessante Geschichte.

Insofern hat Cage meiner Meinung nach in vielen Punkten Recht.

Andererseits denke ich, dass die Interface-Diskussion - oder zumindest die Lösung in Fahrenheit - in eine falsche Richtung laufen. Knights of the old Republic hatte kein Interface das besonders innovativ soziale Interaktion gefördert hätte, trotzdem war die Geschichte ein Erlebnis, das so leicht kein Film übertreffen kann.

Ganon 27 Spiele-Experte - - 83896 - 25. August 2009 - 22:59 #

Sehr gute Zusammenfassung. Ich finde auch, dass viele richtige Dinge angesprochen werden, mit manchem bin ich aber auch nicht einverstanden. Dass Spiele leicht anfangen und schwerer werden, muss schon so sein. Ich werde ja mit der Zeit besser und will daher auch mehr Herausforderung. Es darf natürlich nicht übertrieben werden. Es nervt mich aber, dass alle großen Spieledesigner nur noch davon reden, Spiele müssen simpler werden. Nebenbei, ich bin auch schon Ende 20.
Und man muss auch sagen, dass es mittlerweile einige Actionspiele gibt, die auch während der Level eine Geschichte erzählen. Das fing schon mit Half-Life an.