Philipp Spilker fragt ganz lieb:

Wieso böse sein? Meinung

Was moderne Rollenspiele an Boshaftigkeit von Philipp Spilker fordern oder ihm zumindest erlauben, würde so manche Großmutter vor Schreck erblassen lassen. Doch bisher ist er immer brav geblieben und den guten Weg gegangen. Angesichts aktueller Spiele wie Fable 3, Dragon Age 2 oder Witcher 2 ist es Zeit, zu fragen: Wieso böse sein?
Philipp Spilker 22. Mai 2011 - 22:04 — vor 12 Jahren aktualisiert
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Ich konnte es nicht tun. Die Explosion hätte sicher toll ausgesehen, meinen PC-Monitor in ein schaurig grelles Licht getaucht. Ich hätte mich danach für kurze Zeit unbesiegbar gefühlt, wäre mit reichlich Geld entlohnt worden. Aber es ging nicht. Ich konnte Megaton nicht in die Luft jagen. Ich musste brav sein, lieb, rechtschaffen. Und somit konnte mich Fallout 3 genauso wenig zu einem Monster machen wie viele Jahre zuvor Star Wars: Knights of the Old Republic. Was für ein Mensch muss das gewesen sein, was für ein Unsympath in den Reihen von Bioware, dass er überhaupt auch nur auf die Idee kommen konnte, die Option einzubauen, das lebensrettende Serum nicht etwa dem freundlichen Arzt zu schenken, sondern es meistbietend an skrupellose Verbrecher zu verkaufen und damit den Tod von Tausenden in den Slums des Planeten Taris zuzulassen? Nein, so etwas mache ich nicht! Herrje, ich habe es ja nicht einmal übers Herz gebracht, in Mass Effect die Rachni auszulöschen. Trotz der unbestreitbar großen Schuld, die sie in der Vergangenheit auf sich geladen hatten. Die Rachni-Königin musste mich nur einmal lieb angucken, ein bisschen auf die Tränendrüse drücken, schwupps hatte ich Mitleid mit ihr. Ich bin zu brav für die moderne Gaming-Welt. Ich bin der Traum aller Schwiegermütter

Das ExperimentWarum sollte ich denn auch böse sein? Was habe ich für einen Grund dazu? Wenn ich mich in den Charakter eines Spiels hinein versetzen möchte, wenn ich ihn wie in Mass Effect 2 oder Fallout 3 sogar zu einem gewissen Teil selbst erstelle – dann möchte ich mich doch auch mit diesem Charakter identifizieren können. Und das kann ich nun mal schlecht, wenn ich ihn an jeder Wegkreuzung böse Dinge tun und schlecht mit NPC's umspringen lasse. Aber wenn man es nie versucht, dann kann man es auch nie wissen. Deswegen bin ich kürzlich ins kalte Wasser gesprungen und habe einen Selbstversuch mit inFamous gemacht.

Vernarbt, unausstehlich, größenwahnsinnig. Und für diesen Typ habe ich 20 Stunden investiert?
Von Beginn an nahm ich mir dort vor, den Helden so unausstehlich böse handeln zu lassen, wie es auch nur irgendwie geht. Ich ignorierte dabei also die Gewissensbisse, die sich pünktlich wie die Maurer bereits nach der ersten Mission einstellten, in der ich hungernden Zivilisten dringend benötige Lebensmittel einfach so vor der Nase wegschnappte. Was auf der „In Videospielen böse sein“-Skala allerhöchstens ein Kavaliersdelikt ist, war für mich bereits eine harte Prüfung. Aber ich habe tapfer durchgehalten! Viele Untaten später stand mein Charakter schließlich als siegreicher Antiheld in den Ruinen einer Stadt, die er wissentlich vor die Hunde gehen ließ. Vernarbt, unausstehlich, größenwahnsinnig. Und für diesen Typ habe ich 20 Stunden investiert? Den übernehme ich jetzt via Savegame-Import in inFamous 2? Am Ende des Spiels stand für mich nicht etwa die Freude darüber, endlich mal ein gewaltiges Arschloch gewesen zu sein. Sondern der Gedanke: Hätte ich dieses Experiment doch lieber einfach bleiben lassen!

Und wenn ich diesen Gedanken schon bei inFamous habe, in dem sich die Gut/Böse-Mechanik nun wirklich nicht groß auf den Ausgang der übergreifenden Story, sondern hauptsächlich auf die Gestaltung der mir zur Verfügung stehenden Superkräfte auswirkt, dann hätte ich ihn bei Spielen, in denen meine Entscheidungen den Spielverlauf teils radikal verändern, erst recht. Denn nach langer Spielzeit wünsche ich mir für meinen Charakter was? Genau, ein schönes und zufriedenstellendes Ende natürlich.

Welches Ende hätten's denn gern?Was deswegen für die nächsten Tage auf meiner To-Do-Liste steht: Beim The Witcher 2-Entwickler CD Projekt anrufen und fragen, welches der 16 (!) Enden ihres Spiels sie als das schönste bezeichnen würden. Wobei mir das vielleicht auch der Verrückte verraten kann, dem es als erstes gelingt, diese 16 Enden selbst zu erleben. Für den haben die Entwickler sich etwas Besonderes einfallen lassen: ein bedrucktes T-Shirt. Also wenn das nicht gleichbedeutend mit dem geringsten Stundenlohn der Welt ist, dann weiß ich auch nicht. Mal ehrlich: Woher soll ich mir die Zeit nehmen, 16 Enden zu sehen? Und woher soll ich ohne Komplettlösung (die CD Projekt ja aber praktischerweise in jeder Edition des Spiels mitliefert) wissen, was ich für welches Ende tun muss?

Um Himmels willen: Böse sein ist mir doch nun wirklich schon anstrengend genug. Da will ich doch nicht auch noch zusätzlich dazu überlegen müssen, wann genau und zu wem genau ich wo genau böse sein muss, um die Story so zu formen, wie ich sie gerne hätte. Und in die Komplettlösung will ich erst recht nicht gucken: Ich lese doch bei einem spannenden Film auch nicht parallel das Drehbuch mit. Daher wird es mir in The Witcher 2 wohl so gehen wie in so ziemlich jedem anderen Spiel mit moralischer Entscheidungsfreiheit: Ich werde, sofern das denn in der düsteren Welt eines Geralt von Rivia überhaupt möglich ist, so nett und moralisch sein wie auch nur irgend möglich. Weil es mir a) am meisten liegt und ich b) ansonsten mehr Zeit mit dem Grübeln über die Konsequenzen meines Handelns als mit dem eigentlichen Spiel verbringen würde. Mit anderen Worten: Lieb sein ist meistens einfach am unkompliziertesten.

Ich scheine nicht der Einzige zu sein, dem das so geht. Denn wenn man sich einmal umhört, hört man erstaunlich oft den Satz: „Böse bin ich dann vielleicht beim zweiten Durchgang!“ Was ungefähr so viel bedeutet wie: „Ich will mir mein erstes Erlebnis mit dem Spiel nicht versauen und glaube, dass es mit einem guten Charakter am meisten Spaß macht.“ Das ist offenbar auch den Entwicklern aufgefallen. Nicht umsonst verwischt die Grenzlinie zwischen guten und bösen Entscheidungen in Dragon Age 2 und Mass Effect 2 so häufig – sondern deshalb, weil nur die wenigsten Spieler Boshaftigkeit rein um der Boshaftigkeit willen anstreben würden. Aber viel an dem Problem, dass ich in Spielen nun einmal nicht böse sein kann und will, ändert das auch nicht. Denn wenn ich statt gut und böse eine Ansammlung verschiedener Grautöne vor mir liegen habe, werde ich trotzdem immer das hellste Grau wählen. Zumindest, wenn ich die freie Wahl dazu habe. Böse sein? Das kann ich nur dann, wenn man mich dazu zwingt.

Zwingt mich!GTA 4 hat mich damals gezwungen. Hat mich in die Haut von Niko Bellic schlüpfen lassen, der doch eigentlich nur gut sein wollte. Der nach Amerika geflüchtet ist, um den Dämonen seiner Vergangenheit zu entkommen, nur um dort mit neuen Dämonen konfrontiert zu werden. Er kann nicht anders, als auf die schiefe Bahn zu gelangen. Egal was er tut: Es zieht ihn immer tiefer in einen Strudel aus Kriminalität und Gewalt hinein. Und wenn es doch einmal Entscheidungsfreiheit gibt für ihn, dann ist es nicht wirklich Freiheit, da er sich effektiv nur zwischen tiefschwarz und tiefschwarz entscheiden kann. Aber dann, ganz am Ende, in der letzten Mission: Da werden die Fesseln gelöst. Die Katharsis des Charakters hat sich Rockstar Games für den Schluss aufgespart: Endlich darf ich als Spieler etwas Gutes tun, wenn ich denn will. Natürlich wollte ich und wurde mit einem sehr zufriedenstellenden Ende dafür belohnt.

Wir Gamer sind ein wahnsinnig friedliches Volk.
Die große Stärke von GTA 4 war also nicht etwa die Freiheit in moralischen Belangen, sondern gerade der Mangel dieser Freiheit. Das sollte nicht in Vergessenheit geraten. Denn wenn die Geschichten über böse oder moralisch zwielichtige Helden, die derzeit noch unerzählt sind, in Zukunft größtenteils auf einer von mehreren Abzweigungen innerhalb eines Spiels versteckt werden, wird sie ein Großteil gutmütiger Spieler (inklusive mir) schlicht nie aus erster Hand erleben. Und das wäre doch schade. Es ist nämlich nicht etwa so, dass ich in Spielen nicht auch gerne mal böse sein würde. Würde ich sogar gern. Und zwar abseits vom "comical evil" eines Evil Genius oder eines Dungeon Keeper. Es ist auch nicht so, dass ich prinzipiell etwas gegen die Gut-Böse-Mechanik in Spielen hätte. Aber wenn ich die Wahl habe, gut zu sein, dann werde ich sie auch wahrnehmen. Selbst wenn es wie in Fable 3 zunächst einen Nachteil für mich bedeutet, ein guter Held zu sein, da ich als Tyrann weit weniger Schulden auf dem Staatskonto anhäufen würde. Peter Molyneux möchte mir den bösen Weg also mit Bequemlichkeit schmackhaft machen, aber selbst das verfängt nicht bei mir.

Der Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes hat im 17. Jahrhundert gesagt, der Mensch sei von Natur auf böse. Aber der kann mir viel erzählen. Bevor der nicht aus seinem Grab steigt, mir persönlich einen Besuch abstattet und vor meinen Augen, ohne mit der Wimper zu zucken, Mass Effect 2, Fallout 3 und Star Wars: KotoR auf die schlimmstmögliche Art durchspielt, glaube ich ihm kein Wort. Wir Gamer sind nämlich trotz Killerspielvorwürfen ein wahnsinnig friedliches Volk. Also ich zumindest. Und ihr doch bestimmt auch?

Euer Philipp Spilker
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CD Projekt RED
Namco Bandai
17.05.2011
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Philipp Spilker 22. Mai 2011 - 22:04 — vor 12 Jahren aktualisiert
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