Kinder quälen mit Retrospielen

Harald und der Bub Meinung

Waren Spiele früher wirklich besser? Harald Fränkel wollte wissen, ob die Klassiker vergangener Tage noch heute Spaß machen. Um nostalgische Verklärtheit auszuschließen, lieh er sich ein Kind und zwang es, stundenlang olle Kamellen zu daddeln. Richtig olle Kamellen. Wie sehr der Testbub wohl weinen und kreischen würde?
Harald Fränkel 6. Juni 2010 - 19:39 — vor 13 Jahren aktualisiert
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Ich bin alt. Richtig alt. Um das zu konkretisieren: Ich bin so alt, dass ich bei den Worten „brauner Bär“ nicht als erstes an Intimrasur denke. Ich loche DVD-Rohlinge, damit ich sie doppelseitig bespielen kann. Suche in Zeitschriften mit Vollversionen verzweifelt die Seiten mit dem Programmcode, um ihn abzutippen. Schreibe schon mal versehentlich „LOAD "*",8,1“ ins Word-Dokument, wenn ich zwischen zwei Artikeln eine Runde zocken möchte. Und lese ich in einem Forum so etwas wie „Cool, ich bin auch Retrospielfan! Mein erstes Game war Dark Project, Mann das waren noch Zeiten!“, dann weine ich minutenlang. 
 
Ich sah mich schon bei Die Super Nanny
Um dieser Tristesse zu entfliehen, starte ich hin und wieder meine Zeitmaschine. Reise mit dem Atari 2600 VCS in die Zeit, als ich mit meinem besten Freund Jopie Heesters die Grundschule besuchte. In diesen Momenten fragte ich mich schon oft: Macht mir dieser alte Scheiß nur Spaß, weil ich dabei in Erinnerungen schwelge? Was würde wohl ein Kind sagen, das mit PlayStation 3, Xbox 360 & Co aufgewachsen ist? Also borgte ich mir eins aus, den acht Jahre alten Julian aus Kitzingen bei Würzburg, seines Zeichens Neffe meiner Freundin. Dabei sah ich mich wegen Kindesmisshandlung schon als Hauptdarsteller bei der nächsten Folge von Die Super Nanny.
 
Kurz vorm Herzinfarkt
 
Ich lockte Julian mit Versprechungen à la „Es gibt Pizza und darfst viel länger spielen als es deine Eltern zu Hause erlauben!“ in die Wohnung und parkte ihn vor einem Gerät, das ziemlich genau 25 Jahre älter ist als er. Was er spielen möchte, sollte er selbst anhand der Packungen entscheiden, ich hatte lediglich eine Vorauswahl mit diversen Klassikern getroffen. Sekunden später entging ich nur knapp einem Herzinfarkt, weil der junge Herr mein originalverschweißtes Dig Dug von 1983 aufreißen wollte. Ich konnte das gute Stück gerade noch aus den Klauen der Vernichtung entfernen und ein Zweitmodul anbieten, das man als Sammler natürlich besitzt. Puh, das war echt knapp! Wäre die Folie beschädigt worden, hätte ich in seiner Erziehung offensichtlich komplett gescheiterten Eltern auf etwa eine Million D-Mark Schadenersatz verklagen müssen. Ja, D-Mark. Oder war es doch die Rentenmark? Egal, und dem kleinen Banausen hätte ich wohl oder übel -- Konsequenz muss bei den kleinen Tyrannen bekanntlich sein -- die Fingerchen brechen müssen.
 
Bitte nicht nachmachen!
 
Apropos brechen: Ich hatte natürlich einen Eimer bereitgestellt, falls Julian angesichts der 160x200-Pixelgrafik und wegen des zweistimmigen Monosounds seine jüngste Mahlzeit auswerfen hätte wollen. Das jedoch geschah nicht. Er schien vielmehr recht angetan zu sein, die Kugelmännchen und Drachen aufpumpen zu dürfen, bis sie platzen. NATÜRLICH sagte ich ihm, dass er das bloß nicht mit seiner Fußballpumpe bei Fröschen nachmachen solle – Sie können also locker durch die Hose atmen und die Herztropfen wieder beiseite stellen, Herr Pfeiffer! Julian haderte eigentlich nur ein bisschen mit dem CX40-Joystick, der für heutige Verhältnisse sehr schwergängig ist. Der kleine Kerl sah ein bisschen aus wie ich, wenn ich Telefonbücher zerreiße: also nach 30 Minuten gaaanz leicht angestrengt.

Pitfall! fand Julian dann ziemlich doof. Er scheiterte häufiger an einer Stelle, wo man schnell über drei Krokodile hüpfen muss. Das Ding ist aber auch hart! Wer heutzutage jammert, Spiel XY sei viel zu schwierig, soll ruhig mal sein Glück mit dem Jump-and-Run von David Crane versuchen, bei dem man natürlich NICHT speichern kann. Frogger fand indes etwas mehr Anklang. Klar, einen blöden Frosch zu retten, passt ja zur krötenwanderungschützenden Öko-Bio-Weltverbesserungsjugend von heute.

Ebenfalls spaßig fand Julian einen Titel, über den eine bekannte Behörde vor etwa 25 Jahren wie folgt urteilte: „Jugendliche sollen sich in die Rolle eines kompromisslosen Kämpfers und Vernichters hineindenken. […] Hier findet im Kindesalter eine paramilitärische Ausbildung statt. […] Bei älteren Jugendlichen führt das Bespielen […] zu physischer Verkrampfung, Ärger, Aggressivität, Fahrigkeit im Denken […] und Kopfschmerzen. 

Na, wer hat das üble Militarismus-Metzel-Killerspiel erkannt? Es geht um River Raid, das 1984 von der damaligen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurde. Man steuert darin mehrere Pixel, die ein Kampfflugzeug darstellen sollen, über eine von oben nach unten scrollende "Karte", auf der man andere Pixelklumpen (die Schiffe oder Flak darstellen sollen) abschießen muss. Echt grausam, das! Wer mich jetzt anzeigen möchte, weil ich Kindern brutale Kriegsspiele zugänglich mache: Der Titel steht seit 2002 nicht mehr auf dem Index und ist mittlerweile von der USK ohne Altersbeschränkung freigegeben. Ich habe Julian quasi ein Spiel untergejubelt, für das er schon viel zu groß ist. Wie sich die Zeiten ändern.   
 
Testsieger ist …
 
Als absolutes Lieblingsspiel des Tages entpuppte sich allerdings ein Geheimtipp: Wizard of Wor. „Boah, das will ich noch mal spielen, das ist cool!“, meinte Julian. Im Spiel steuert man einen Soldaten, der sich in einem von oben gezeigten Labyrinth dreier Gegnertypen erwehren muss (die ihrerseits jedoch von der Seite gezeigt werden). Ab und zu schaut der Wizard of War vorbei. Quasi Pacman als Killerspiel. Mit Multiplayer-Modus! Das Spiel hat schon vor 25 Jahren absolute Suchtpheromone versprüht, und siehe da: Auch im Jahr 2010 musste ich Julian mit der stillen Treppe drohen, um ihn wieder loszueisen.

Weil ich seinen Sinnen dann noch etwas richtig Geiles gönnen wollte, ließ ich ihn nun an eine echte Hightech-Maschine, ein mit fast 1 Mhz getaktetes, brachiales Grafik- und dreistimmiges Soundmonster mit über 38 Kilobyte freiem RAM, das bei Spielen wie Ghostbusters und To be on Top sogar schon Sprachausgabe beherrschte. Die Rede ist natürlich vom Commodore 64! Und so versuchte sich das VersuTester an International Soccer. Nachdem er zunächst den Ball vermisst und ich ihm erklärt hatte, dass bei diesem tollen Spiel nicht das Runde ins Eckige muss, sondern das Eckige ins Eckige, fand er die Ein-Tasten-Kickerei per Competion Pro sogar richtig super. Nur den Trick, den Viereckball per Hackentrick auf den Kopf des Spielers zu befördern und dann dauerköpfend vom eigenen Strafraum bis ins gegnerische Tor damit zu laufen, den hat er nicht herausbekommen. Hehe!
 
Selbst der Torjubel, dessen Akustik sich ungefähr zwischen „Meeresrauschen am Strand von Ägypten mit Wasser im Ohr“ und „Onboardsound komplett im Popo“ bewegt, vermochte Julian nicht wirklich zu irritieren. Fingus, der fette Kater meiner Freundin, bekam dies in Form lautstarker Begeisterungsausbrüche zu spüren, die ihn zur panischen Flucht animierten. So schnell hatte sich die Fellkugel seit 15 Jahren nicht mehr bewegt!
 
Pädagogisch wertvoll
 
Mario ist trotzdem vieeel besser
Keine Frage, ich achtete natürlich stets darauf, nicht blind mit „LOAD "*",8,1“ von den Disketten mit den Sicherungskopien zu laden. Weil bei diesem Befehl ja immer automatisch das erste Spiel vom Datenträger in den monströsen Arbeitsspeicher gesaugt wird und ich Julian Titel wie Samantha Fox Strip Poker, Sex Games oder gar Girls: They want to have Fun ersparen wollte. Mann, was bin ich pädagogisch wertvoll. Die einzigen Frauen, die Julian zu Gesicht bekommen hat, waren darum The Great Giana Sisters, bekanntlich ein totaler Mario-Klon. Das erfuhr dann ebenfalls ein positives Urteil, wobei Julian aber großen Wert auf eine Feststellung legte: „Mario ist trotzdem vieeel besser!“ Er hatte also, ohne jede Vorbildung, ebenfalls den dreisten Ideenklau erkannt, nach über zwei Jahrzehnten... 
 
Leider endete die Spielerei dennoch mit einem echten Affront, der den Hauptdarsteller dieses Nachmittags, also mich, in tiefe Depression stürzte. Julian erwies sich nämlich als sehr, sehr schlecht erzogen und Gast ohne Manieren. Was fiel dem Knilch ein, bei Winter Games einfach den Weltrekord im Eisschnelllauf zu brechen? Gleich beim ersten Versuch? HALLO? JETZT STEHT SEIN NAME AUF MEINER HIGHSCORE-DISKETTE!!!
 
Kleiner Bettler
 
Als Sportsmann verhielt ich mich selbstverständlich fair. Tat Julian sogar etwas Gutes, indem ich ihn höflich darauf hinwies, dass er nun gehen müsse. Zu viel Computerspielen ist in dem Alter ja auch nicht gut, ne? Weil er so dolle bettelte, gestattete ich noch drei Runden Wizard of Wor. Allerdings gegen Aushändigung von Julians komplettem Monatstaschengeld. Wizard of Wor speichert wenigstens keine Highscores! Dann aber war Schluss: „Ich kann dich ja nicht mehr daddeln lassen, als es deine Eltern erlauben würden, dafür hast du doch sicher Verständnis? Von Würzburg bis Kitzingen sind's ja nur 14 Kilometer, das schafft ein Spitzenathlet wie du locker zu Fuß. RAUS!“         
 
So, und ich muss jetzt auch weg. Dringend. Schnell. Sofort. Eisschnelllauf trainieren.
 
In diesem Sinne: schönes Leben noch!
 
Euer Harald Fränkel
 

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