Rotkäppchen mal anders

The Path User-Artikel

Freeks 19. Dezember 2009 - 6:45 — vor 14 Jahren zuletzt aktualisiert
Früher war die Winter und Weihnachtszeit auch die Zeit der Märchen. Rapunzel, Hänsel und Gretel, Aschenputtel oder auch Rotkäppchen. Tale of Tales hat das Märchen von dem durch den Wald laufenden Mädchen aufgegriffen und... interpretiert. Doch so vergleichsweise nett wie die Gebrüder Grimm gehen die Belgier nicht mit dem Stoff um.
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Wie kann man ein Kunstspiel bewerten? Kann man die Mona Lisa bewerten? Technisch gesprochen ist sie eine Kombination aus Ölfarbe und Leinwand, aber trotzdem erkennen wir mehr, wenn wir sie einfach ansehen. Schönheit, Kreativität, Tiefe, ein Erlebnis. Daher will ich The Path nicht bewerten, sondern euch davon erzählen. Ein Erlebnis beschreiben, wie wir es wohl sonst nur um 4 Uhr morgens, wenn es draußen gewittert und seltsame Geräusche von Wänden und Dachböden kommen, haben können. Ein Spiel, das uns durch Mark und Bein fließt.
 
Rein technisch gesprochen ist The Path ein Such- und Sammelspiel. Finde alle 144 Blumen, finde alle Schlüsselorte, finde alle Items, und führe alle Mädchen zum Wolf. Doch wie bei Kunstwerken steckt mehr dahinter als die Summe der Farben...
 
Es war einmal
Wer kennt nicht die Geschichte vom Rotkäppchen? Ein Mädchen auf dem Weg zur Großmutter, um ihr Wein und Kuchen zu bringen. Die Mutter warnt sie, nicht den Weg durch den Wald zu wählen, da dort der Wolf lauert. Das Mädchen verwirft die Ratschläge der Mutter, wandert durch den Wald, trifft den Wolf und unterhält sich mit ihm. Der Wolf verabschiedet sich, eilt zur Großmutter und frisst sie…
 
Die sechs "Reds", dem Alter nach aufgestellt.
The Path ist eine moderne Version des Märchens.
6 Töchter leben mit ihrer Mutter in einer Apartmentwohnung in der Stadt und werden einzeln auf den Weg zur Großmutter, welche tief im Wald wohnt, geschickt. Wir wählen unser Mädchen aus und sehen in einer hübschen Kamerasequenz das erste Mal den Weg zum Haus der Großmutter. Auch hier kommt die Warnung:Bleib auf dem Weg". Hier kommt der Spieler zum Zug. Läuft man den sonnigen und freundlichen Weg entlang, betritt Großmutters Haus und legt sich zu ihr ins Bett? Oder erforscht man den Wald und trifft möglicherweise auf den Wolf?
 
Auch wenn man aus Neugierde mindestens einmal den direkten Weg zur Großmutter wählt, entscheidet man sich beim nächsten Mal ziemlich sicher für den Wald. Es gilt Orte und Dinge zu entdecken und mehr über die Mädchen zu lernen, hat doch jede ihre eigenen Charakterzüge. Die sechs (ausschließlich rot und schwarz gekleideten) Mädchen sind unterschiedlich alt und spiegeln verschiedene Menschentypen wieder. Mit der 9jährigen neugierigen Robin, der 15jährigen „Goth“ Ruby, der pflichterfüllten und doch einsamen Scarlet und den anderen drei Schwestern wird wohl ein Großteil menschlicher Grundtypen abgedeckt. Vielleicht findet der eine oder andere ein Teil von sich, den man möglicherweise verdrängt hat, den man vermisst oder doch schlicht und ergreifend wiedererkennt.

Schönheit im Verfall
 
Jedes Mädchen hat seine eigenen Lieblingsorte im Wald und gibt Textfetzen in der The-Path-typischen Schrift wieder, findet sie einen der verstreuten Gegenstände. Spricht Ruby von der Schönheit im Verfall und ihrem frühen Ableben, schwärmt Carmen von einer Welt, in der sie die schönste und begehrenswerteste ist.  Doch die Mädchen sind nicht allein im Wald, treffen sie doch sporadisch auf das rätselhafte Mädchen in Weiß, dass sie gerne unterhält, vor ihnen Räder schlägt, mit ihnen Verstecken spielt oder an der Hand durch den Wald führt. Ist sie das Gewissen, das uns zurück auf den Weg führen soll, eine Gute, die uns vor dem Wolf schützen will? Oder ist sie etwas ganz anderes? Wir wissen es nicht, und wie so oft gibt uns The Path viel Raum zum Spekulieren und Philosophieren.
 

So, wie es für jedes der Mädchen eigene Orte im Wald gibt, hat auch jede ihren eigenen Wolf. Eine Versuchung, Verführung, ein Verlangen, vor dem sie sich eigentlich fern halten sollte, aber sich am Ende doch darauf einlässt. Diese Schwäche hat ihren Preis, und hier kommt Perrault ins Spiel. Charles Perraults Version geht nämlich nicht so nett aus wie die der Gebrüder Grimm. Das Mädchen legt sich nackt ins Bett der Großmutter und wird wie diese vom Wolf verschlungen. So direkt wie im Märchen stellen Tale of Tales das Ende vielleicht nicht da, viel mehr wird einem (wie auch so oft) viel Raum zum Spekulieren gelassen. Nach dem Treffen mit dem Wolf, erwacht das Mädchen wenige Meter vor Großmutters Haus. Es regnet in Strömen und sichtlich geschwächt geht das Kind in kleinen Schritten auf das Gartentor zu.
 
Das Haus der Großmutter
 
Es gibt nur ein Ziel. Und wenn du es erreichst, stirbst du.
Das Haus erreicht, beginnt die wohl verworrenste und doch faszinierendste Szene im Spiel. Durch das Haus  wandernd, treffen wir auf Gegenstände, die wir im Wald entdeckt haben. Sich drehende Räume, unendliche Schließfachreihen, Blutlachen am Boden und vieles mehr. Jeder Klick verleitet zum Spekulieren, was wohl diese Bilderzusammensetzung bedeuten mag. Jedes Mal kommen wir auf andere Theorien. Schlussendlich finden wir das Schlafzimmer. Hat man den Wald durchstreift und den Wolf getroffen, stirbt das Mädchen. Hat man aber alle Regeln befolgt, den Wald gemieden und ist schnurstracks zur Großmutter gelaufen, legt man sich zu ihr ins Bett und das Spiel ist beendet, mit der Aussage, dass man versagt habe.
 
Die Steuerung fühlt sich anfangs künstlich an, und man wundert sich, warum die Kamera nach schräg oben fährt und das Bild verwischt, wenn man rennt. Sammelgegenstände wie Blumen verblassen zusätzlich und es wirkt, als würde ein Sturm toben. Denn die Designer wollen, dass wir gehen, den Wald erkunden, statt wie bei 3D-Shootern nur durch die Gegend zu rennen.

Ein weiteres Merkmal der unorthodoxen Steuerung ist die Invertierung. Nein, nicht die der X- oder Y-Achse, sondern die der Aktionen. Die Mädchen agieren, indem man nichts tut. Die Maus wird einfach losgelassen. So bleibt ein „unerwartet“-Charakter bestehen und man sieht überrascht zu, wie das Mädchen mit der Gestalt in Weiß interagiert.
 
Mehr Kunstwerk als Spiel

The Path kaufen
The Path ist unseres Wissens nicht im Handel erhältlich, aber unter anderem bei diesen Download-Portalen, für rund 7 bis 8 Euro:

Direct2Drive (UK)
GamersGate
Steam

Eine kurze Demo gibt es unter anderem hier.
Ich will mir nicht anmaßen, The Path voll verstanden zu haben oder diese Kunstform hinreichend interpretieren zu können. The Path schafft es jedes Mal, mich in eine nachdenkliche Stimmung zu versetzen. Die Grafik ist nicht die hübscheste, die Bewegungen nicht sehr ausgefeilt und die begehbare Welt nicht so groß, doch kann ich gefühlte Ewigkeiten durch den Wald rennen, nur einige der Gegenstände finden, und es überfällt mich doch wieder eine Gänsehaut, wenn ich auf den Wolf treffe. Tale of Tales nennt ihr Werk „a short horror game“ (ein kurzes Horrorspiel) und das ist es in meinen Augen. Es liefert keine Schockmomente alá Dead Space oder Fear, dafür aber ein tiefes Unbehagen und eine unheimliche Gänsehaut. Die psychedelische Musik, die Bewegungsunschärfe und die stellenweise auftretende Überbelichtung schaffen eine ruhige und doch bedrohliche Atmosphäre.

Gespielt habe ich The Path sowohl an meinem Monitor, mit Kopfhörern (um auch ja jedes andere Geräusch auszuschließen), als auch auf meinem Beamer, mit der Soundanlage auf Anschlag. Die Wirkung hat sich nicht wesentlich verändert, nur sollte man auf jeden Fall für die Spieldauer keinen Besuch empfangen und auf gar keinen Fall Licht in den Raum lassen.

Wollt ihr ein unheimliches Erlebnis, eine andere Erfahrung, die nicht wirklich einem unserer normalen Spiele gleichkommt? Dann ist The Path das richtige für euch.
 
„Will you take the path of needles… or the path of pins?”




Freeks 19. Dezember 2009 - 6:45 — vor 14 Jahren zuletzt aktualisiert
Olphas 26 Spiele-Kenner - - 66869 - 20. Dezember 2009 - 11:21 #

Sehr schöner Artikel! Gerade solche Artikel zu auch mal sehr ungewöhnlichen Titeln tragen meiner Meinung nach mit dazu bei, dass Gamers Global weit aus der Masse der Spiele-Seiten herausragt.

Zum Spiel selbst, bzw. zum Video (hatte bis gerade eben noch nie von dem Titel gehört):

Technisch wirkt es sehr schwach, allerdings hat es einen ganz besonderen und faszinierenden Stil, der mir sehr gefällt. Dazu kommt der geradezu bezaubernde und irgendwie hypnotische und meditative Soundtrack. Ich glaube, dass werd ich mir bei Gelegenheit mal steamen.

Sebastian Conrad 16 Übertalent - 4790 - 20. Dezember 2009 - 12:57 #

Der Artikel an sich ist schon ziemlich geil und gut geschrieben. Aber das Video... Nicht nur die verstörende und ziemlich abgedrehte Atmosühäre... nein. Du Freek rundest das Video mit deiner Klaus-Kinski-Gedächtnis-Sprecherstimme erst richtig ab. Ob gewollt oder nicht, aber: Du hast ne Psychopathen-Stimme xD

Freeks 16 Übertalent - 5525 - 20. Dezember 2009 - 13:10 #

Ich wusste das sowas kommt XD
Wenns mal wieder n Video gibt, dann
a) mit nem anderen Mikrophon (mein Guitar Hero Mik hört sich ganz gut an, hab ich aber erst danach festgestellt)und
b) such ich mir n fröhlicheres Spiel aus, hätte ja kaum mit "halli hallo hallöle meine Lieben da draußen *Euphorieüberschwang" anfangen können :D

Aber Danke ;)

Limper 18 Doppel-Voter - P - 10310 - 20. Dezember 2009 - 13:31 #

Toller Text und tolles Video! Man wird wirklich sofort in einen eigentümlichen Bann gezogen der einen nicht mehr so schnell loslässt.

Ben 13 Koop-Gamer - 1745 - 20. Dezember 2009 - 15:17 #

Wow, danke!
Ich hatte das Spiel schon länger auf dem Radar. Aber bisher hab ich mich noch nicht dazu durchgerungen, es zu kaufen.
Jedoch bin ich nun sauer auf mich, weil ich deinen wirklich tollen Text gelesen habe, weil ich nun weiß, was mich erwartet und mein erstes Spielerlebnis nicht mehr so intensiv sein kann, wie ich es mir gewünscht habe. Ein Zweischneidiges Schwert, so wie wohl auch die Entscheidungen, die man in diesem Spiel zu fällen hat ...

Daeif 19 Megatalent - 13820 - 20. Dezember 2009 - 16:56 #

An Spielen wie The Path kommt mir langsam die Hoffnung, dass Computerspiele langsam erwachsen werden. Jedes Medium braucht irgendwie abgefahrene Sachen, die kaum ein Mensch versteht, damit man sieht, was damit zu machen ist. The Path zeigt sehr schön, welche Freiheiten heute möglich sind.

Bevor ichs vergess: Text und Video sind echt toll. Danke für diese Horizonterweiterung.

Punisher 22 Motivator - P - 32210 - 21. Dezember 2009 - 8:58 #

Äh. Ja. Was soll man zu dem Video sagen.... cool gemacht, wenig dazwischengequaselt und das Spiel genauso wirken lassen, wie es wohl wirken soll... ganz schön kranke veranstaltung, das ganze. Aber irgendwie auch spannend und interessant.

Cooler Artikel auf jeden Fall.

Earl iGrey 16 Übertalent - 5093 - 21. Dezember 2009 - 9:22 #

Ziemlich schräg. :/

Christoph 18 Doppel-Voter - P - 10229 - 21. Dezember 2009 - 22:49 #

Olphas hat recht: Themen rund um Spiele, aber mehr als in jedem Heft, und all das noch dazu ziemlich "ernst" und erwachsen, aber trotzdem total unterhaltsam - das macht GamersGlobal aus, und deshalb schauen wir hier jeden Tag vorbei!
GamersGlobal erweitert den Horizont auch von erfahrenen Spielern um die 37! ;)

Imbazilla 15 Kenner - 3068 - 22. Dezember 2009 - 15:17 #

Resident Evil, Dead Space, alles kein Problem - aber dieses Spiel mit dieser Musik hat mir eine solche Gänsehaut verpasst und mir eine solche Angst eingeflößt, das ich das Video mit großen Augen angestarrt habe, ohne ein Wort zu sagen/denken.

Verstörendes Kunstwerk...

McFareless 16 Übertalent - 5567 - 4. Januar 2010 - 5:12 #

Guter Artikel, hört sich super interessant an das Spiel!

TheEdge 16 Übertalent - 4425 - 31. März 2010 - 12:29 #

Ich sage euch, kaufen kaufen kaufen!

HeadMunk 14 Komm-Experte - 1874 - 19. Mai 2010 - 18:59 #

Dein Test macht wirklich Lust auf dieses ungewöhnliche Spiel. Gerade das du die künstlerische Seite betonst, scheint mir sehr gut zu passen. Ich werde das Spiel bei der nächsten freien Minute mal anzocken!