Die Nr. 3 der Weltrangliste:

Spiele-Paradies Kanada Report

"20 Prozent der meistverkauften Spiele in Nordamerika stammen aus Kanada, digitale Medien und Kanada sind ein Traumpaar" – so wirbt der kleine, große Nachbar der Vereinigten Staaten. Und in der Tat: Kanada ist mittlerweile der drittwichtigste Spieleproduzent der Welt. Das ist kein Zufall, sondern hat mehrere nachweisbare Gründe.
Jörg Langer 1. Oktober 2010 - 22:33 — vor 13 Jahren aktualisiert
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In der Bevölkerungszahl verhält sich Kanada zum Nachbarn USA fast genau so, wie Österreich zu Deutschland: Gerade mal 10 Prozent des "großen Bruders" werden erreicht. Doch wenn es um Videospiele geht, haben die Kanadier mittlerweile die meisten Länder hinter sich gelassen und rangieren direkt nach den USA und Japan auf Platz 3. Von wegen "kleiner Bruder"! Kanada hat fast exakt dieselbe Fläche wie die Vereinigten Staaten (jeweils knapp 10 Millionen Quadratkilometer), aber nur 34 Millionen Einwohner. Das wiederum sind gerade Mal halb soviel wie im Vereinigten Königreich, doch UK -- die Wiege von Firmen wie Bullfrog, Lionhead Games, Core Design und vielen, vielen anderen -- ist von Kanada längst als Games-Produzent überholt worden.

Das mit Spannung erwartete Deus Ex - Human Revolution vom Entwicklerstudio Eidos Montréal ist nur einer der vielen potentiellen Blockbustern, die sich derzeit in Kanada in Entwicklung befinden.

Mit blauem Auge aus der Finanzkrise gekommen

Noch vor der internationalen Finanzkrise erwirtschaftete Kanada bis 2006/2007 zehn Jahre in Folge einen Haushaltsüberschuss. Die internationale Finanzkrise, die ab 2007 die Volkswirtschaften und der Bankenwelt gehörig zu schaffen machte, hinterließ auch in Kanada ihre Spuren. Der Haushalt war 2008 aufgrund der Rezession zum ersten Mal seit Jahren nicht ausgeglichen, viele Unternehmen gingen in die Insolvenz. Und auch wenn Kanadas Banken im internationalen Vergleich relativ unbeschadet aus der Krise hervorgingen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank 2009 um 2,5% und der Außenhandel stellenweise um bis zu 18%.  Die Arbeitslosenquote stieg von ursprünglich etwa 6% auf über 8,7%, aktuell hat sie sich bei etwa 8,1% eingependelt, mit leicht sinkender Tendenz.

Nachdem es Anfang des Jahres stark bergab ging, erholt sich der kanadische Dollar langsam wieder. (Bild veröffentlicht von Gorgo auf Wikipedia unter cc-by-nc-sa)
Gegenüber dem Euro hat sich der kanadische Dollar nach einer Berg- und Talfahrt mittlerweile erholt; man erhält aktuell für einen kanadischen Dollar 0,71 €. Die Zahl der Beschäftigten ist nach der überstandenen Krise wieder steigend, im Mai 2010 gab es zum fünften Monat hintereinander weniger Arbeitslose. Übrigens gehört Kanada zu den Ländern, deren Banken sich in der großen Krise nicht massiv verspekuliert hatten, und nicht mit Staatsmitteln gerettet oder zumindest gestützt werden mussten.

Gründer und Spielefirmen

Doch wieso ist Kanada mittlerweile das Spiele-Produzentenland Nummero 3, vor vielen bevölkerungsreicheren Ländern wie England, Frankreich, Deutschland, Russland oder Südkorea? Das ist kein Zufall, sondern hat vielfältige Gründe.

Mit der wichtigste: Unternehmensgründer oder Investoren in strategisch wichtigen Branchen werden von der kanadischen Regierung nach Kräften unterstützt. Zu den als strategisch erkannten Wirtschaftszweigen gehört unter anderem der Software/Grafikdesign/Spiele-Sektor. Zu den zahlreichen Incentives kommen wir weiter unten.

Die Attraktivität Kanadas für Spielefirmen setzt sich aber auch aus anderen Faktoren zusammen, darunter hohe Lebensqualität, universelle Krankenversicherung, geringe Kriminalitätsrate -- da fällt es leicht, Personal in das Land der ahornsirupschlürfenden Bären zu locken. In diesen Punkten (die Bären und den Sirup mal außen vor gelassen) kann Deutschland problemlos mithalten oder liegt vorn. Der springende Punkt ist die Ausbildung von zukünftigen Spielentwicklern. Hier bieten in Deutschland nach wie vor nur einige Privatschulen oder -akademien spezielle Ausbildungen an, nur ganz wenige Universitäts- oder FH-Lehrstühle beschäftigen sich mit der Thematik Games. Dem gegenüber werden solche Angebote in Kanada von Hunderten von Unis und Colleges offeriert.

Allein in Ontario bilden fast 50 Hochschulen zwischen 13.000 und 14.000 Studenten spielenah aus, über 3.000 von ihnen machen jährlich ihren Abschluss (meist ein Bachelor of Applied Sciences mit Schwerpunkt Games). Anders als vielen deutschen Politikern, Journalisten und Banken gelten zudem den kanadischen Pendants Computerspiele nicht als Schmuddelzeug. Wie in USA wird das ESRB-Rating zur Alterskennzeichnung verwendet, es ist aber im Gegensatz zu den Ratings der Film- und Videobranche nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern nur eine Empfehlung an den Handel. Noch ein Grund für viele Spielefirmen, nach Kanada zu gehen: Die Einwanderungsgesetze sind weniger streng als in den USA, das erleichtert das "Umsiedeln" von Experten.

Krisensicher: Arbeitskräfte im Spielesektor

Von der Wirtschaftskrise keine Spur: Alleine Bioware Montréal sucht Leute für mehrere Projekte, darunter einen Militärshooter (im BIld Arma 2 von Bohemia Interactive).
Während die kanadische Wirtschaft unter der Last der Krise litt, trotzte die Spiele-Industrie den Widrigkeiten. Die kanadische Spiele-Industrie besteht aus etwa 14.000 direkt Beschäftigten, auf über 240 Unternehmen verteilt. Auf die größten fünf Spielefirmen entfallen etwa 40% dieser Angestellten, auf die größten 80 etwa 90%. Fast zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten in der Spiele-Entwicklung, rund 25 Prozent stellen Middleware her (z.B. Grafik-Engines). Nicht mit eingerechnet sind hierbei Jobs im Verkauf und Transport. Jeder zehnte Software-Job in Kanada befindet sich in der Spiele-Industrie. In Deutschland dürften es nicht einmal 1% sein.

Die Umsätze im kanadischen Spielesektor betrugen 2008 über 2 Milliarden Dollar, ein Zuwachs von über 23% seit 2007. Und Prognosen gehen davon aus, dass sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetzen wird. Dieser Umsatzwert ist nicht nur deutlich größer als in Deutschland (1,35 Milliarden Euro), sondern auch die Zusammensetzung ist eine ganz andere: Der Großteil der deutschen Games-Umsätze wird mit dem Vertrieb ausländischer Spiele an Endkunden erzielt, und nur ein kleiner Teil mit deutschen Eigenentwicklungen, die auch im Ausland verkauft werden. Die Spieler in Kanada, also der Binnenmarkt, sind hingegen für weniger als ein Drittel der Spielebranche-Umsätze verantwortlich. Kanada ist also eine Computerspiele-Exportnation.

Die Games-Industrie ist in neun der 13 kanadischen Provinzen vertreten – die restlichen vier sind in Sachen Bevölkerungszahl vernachlässigbar, etwa das an Alaska angrenzende Yukon Territory mit 33.000 Einwohnern.  In der Beschäftigtenzahl führt British Columbia mit über 4.500 Mitarbeitern vor Quebec (2.300) und Ontario (1.400). Das ist zufälligerweise die umgekehrte Rangfolge der drei bevölkerungsreichsten Provinzen, denn hier liegt Ontario (13,1 Millionen) vor Quebec (7,8) und British Columbia (4,5). Allerdings sitzen insgesamt rund 40% der Spielefirmen in Ontario. Im Fokus der Provinzregierung Ontarios steht der Sektor Digitale Medien eigenen Angaben nach an dritter Stelle, davor kommt nur noch die Biotechnik und die Automobil-Industrie.

Bei Ubisoft Montréal in der Provinz Québec entsteht derzeit unter anderem Assassin's Creed - Brotherhood.

Hedgehog 13 Koop-Gamer - 1550 - 2. Oktober 2010 - 10:49 #

"..., doch UK -- die Wiege von Firmen wie Bullfrog, Lionhead Games, Crystral Dynamics und vielen, vielen anderen --"

Sitzt Crystal Dynamics nicht in Kalifornien?

Jörg Langer Chefredakteur - P - 469823 - 2. Oktober 2010 - 15:52 #

Gemeint war tatsächlich Core Design. Frag mich nicht, wie ich von Core Design auf Crystal Dynamic gekommen bin...

Harald Fränkel Freier Redakteur - P - 13774 - 2. Oktober 2010 - 17:14 #

Ich tippe: Weil beide Tomb-Raider-Spiele gemacht haben. ;)

Jörg Langer Chefredakteur - P - 469823 - 2. Oktober 2010 - 22:00 #

Vermutlich. Oder weil beide die gleichen Initialien haben?

Crizzo 20 Gold-Gamer - - 24427 - 2. Oktober 2010 - 11:00 #

Sehr informativer Artikel. :) Hätte nicht gedacht, dass Kanada so weit vorne ist, wenn es mal nicht um Eishockey geht. :D

CH64 14 Komm-Experte - 1885 - 2. Oktober 2010 - 11:37 #

Schöner Artikel der die Hintergründe der Kanadischen Spieleindustrie beleuchtet.
Das mit den 13 Provinzen ist nur so nicht ganz richtig. Kanada hat 10 Provinzen und 3 Territorien. Die Territorien sind enger an die Zentralregierung in Ottawa gebunden und Reduzieren so den Verwaltungsaufwand in dünn besiedelten gebieten.

McStroke 14 Komm-Experte - 2276 - 2. Oktober 2010 - 12:43 #

Der Artikel ist wieder mal sehr gelungen, ein großes Lob dafür!

Ich wage mal zu behaupten, dass Kanada die USA mittlerweile sogar ablösen was Blockbusterspiele angeht, oder zumindest ebenbürtig sind. Ich mag mich irren, aber die Spiele die ich persönlich relevant finde, bzw. die Entwickler dahinter, kommen größtenteils aus Kanada. Mass Effect und Dragon Age von Bioware, Assassins Creed von Ubisoft, GTA von Rockstar Toronto. Dem gegenüber fallen mir für die USA, die ja eine wesentlich größere Spieleindustrie haben, nur Fallout 3 von Bethesda, Starcraft 2 und WoW von Blizzard, und evtl. noch Call of Duty ein. Man müsste doch denken, dass die USA die Muskeln spielen lassen, und weit mehr Blockbuster raushauen als das kleine Kanada. Die Kanadier schaffen es aber mit ihrer schlauen Politik mit den USA mitzuhalten, das finde ich wirklich respektabel, weiter so :)

Larnak 22 Motivator - 37541 - 3. Oktober 2010 - 3:22 #

Die halten nicht nur mit den USA mit sondern auch die deutsche Spieleindustrie klein :D

Asto 15 Kenner - 2904 - 20. Juli 2011 - 23:33 #

Jain, ich denke es gibt auch unterschiedliche Ausrichtungen je nach Gebiet.

Nozzy (unregistriert) 2. Oktober 2010 - 13:34 #

Interessanter Artikel, der gut erkennen lässt wie sich einzelne Länder im globalen Wettbewerb immer weiter spezialisieren. Wir hier in Deutschland setzen halt mehr auf den Maschinenbau und Industrie. Die Kanadier eben auf Spiele. Muss ja nich zwangsweise schlecht sein.

AntiChrist 08 Versteher - 161 - 2. Oktober 2010 - 18:04 #

Doch, es ist schlecht. Gerade in der heutigen Zeit führt Schubladendenken - und nichts anderes betreiben die deutschen Politiker und Verantwortlichen - zum Stillstand. Ich komme selbst aus dem Bereich Maschinenbau (lange ist es her), und ich weiss wie gut die Produkte aus Deutschland international gesehen sind. Aber von anderen Ländern können wir nicht erwarten, dass diese nicht irgendwann auf dem gleichen Level sind. Und da würde Deutschland ein Blick über den Tellerrand hinweg mal ganz gut tun.

Sicher, man braucht nicht gleich Steuererleichterungen von bis zu 50%, aber warum zum Teufel muss in Deutschland vieles dermaßen verkompliziert oder verteufelt werden? Crytek hat ja bewiesen, dass es gute Spiele aus Deutschland geben kann! Warum also nicht dieser Branche Unterstützung zusichern und somit den Horizont erweitern?

Masu 10 Kommunikator - 471 - 2. Oktober 2010 - 22:00 #

Nun, so schlecht ist es doch um die deutsche Spielebranche nicht bestellt, allein es fehlen die echten Blockbuster (zum Glück?).

Alle guten Adventure der letzten Jahre mit Ausnahme mal von Runaway kamen und kommen aus Deutschland. Whisperd Worlds, Book of Unwritten Tales, Geheimakte usw.

Des weiteren einige wirklich gelungene Aufbaustrategiespiele (Siedler, Anno) und etwas Rollenspiel (Risen).

Für große Action war Deutschland nie bekannt, ich denke man sollte sich hier auf die Stärken konzentrieren. (Crysis war in meinen Augen nicht mehr als eine öde Grafikdemo...)

Larnak 22 Motivator - 37541 - 3. Oktober 2010 - 3:20 #

Das ist ja leider nicht allein ein Problem der Politik, sondern auch und vor allem der Gesellschaft. Die Politiker reden doch solchen Blödsinn und sind nur deshalb so vorsichtig mit Förderungen etc. (siehe den Preis und dem Anno-Ereignis), weil die Gesellschaft diese Art des Umgangs indirekt fordert.

Bis sich das ändert, wird wohl auch noch etwas Zeit vergehen.

Zum Artikel: Sehr schön und informativ. Und die Ersparnisse, die die sich da schnappen können sind ja unglaublich. Da entwickeln sich Spiele ja fast ohne Kapital...

Maturion 11 Forenversteher - 707 - 9. Oktober 2010 - 11:44 #

Schöner Artikel. Das ist wieder einer der Gründe warum ich GG so gerne habe: Sowas findet man nirgendwo anders.
Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen. Die deutsche Politik in diesem Bereich ist dumm und kurzsichtig. Deutschland hat aber leider im gesamten Bereich Hightech/IT (nicht nur im Spiele-Bereich) völlig den Anschluss verloren. Länder wie Südkorea, Kanada oder China sind da längst an uns vorbeigezogen.

Früher war Deutschland mal eines der Länder aus dem technische Innovationen kamen, heute sieht es hier ziemlich düster aus. Naja, sicher nur einer von vielen Gründen für unseren wirtschaftlichen Abstieg.

Nemi (unregistriert) 3. Januar 2011 - 8:18 #

Also wenn ich mir den Firmen sitz von EA anschau, wundert es mich nicht das die kaum was gescheites Herstellen... ich mein bei so ein Teil ? ich würde da kaum im Büro sitzen o.0 lieber Fußball Spielen oder in der Cafeteria hocken also der HAMA der Laden ehrlich xD

@btt:

es ist irgendwo Logisch das ein Land was kaum industrie hat sich sowas leisten muss ( ja steuervergünstigungen sind keine garantie dafür das die wirtschaft die man angelockt hat auch nach der vergünstigung bleibt ! ) ... Deutschland macht das nicht viel anders blos für andere Industrie Zweige. Die USA macht das ja auch =) man schaue sich nur Silicon Valley an.