Blick zurück vom Jahr 2030

Der große Spiel-Fluss Meinung

Gaming im Jahr 2030: Spiele kommen per Streaming als Video oder werden abschnittsweise nachgeladen. Genauso wird bezahlt: abschnittsweise und nur für das, was dem Spieler gefällt. Der Kunde ist König und alle profitieren. Steffen Itterheim blickt für GamersGlobal aus dem Jahr 2030 zurück in die bewegte Zukunft der Spieleindustrie.
GamingHorror 7. April 2010 - 21:02 — vor 13 Jahren aktualisiert
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Wir schreiben das Jahr 2030. Beim Stadtbummel, für mich ein angenehmes Dahingleiten mit meinen beiden iFootPads, treffe ich einen Freund, der mir stolz seinen Einkauf präsentiert: Das 10 Jahre alte FIFA 2020 in der Färöer Inseln Euro Championship Edition. Die ist bemerkenswert rar, war es doch das letzte Spiel, das EA Future-Sports (in kleinen Stückzahlen) auf Blu-ray-Scheiben presste und noch in den physischen Handel brachte. Seit einem Jahrzehnt aber sind Musik, Filme und Spiele komplett aus dem Handel verschwunden. Nur nostalgische Sammler wie mein Freund holen sich noch Spiele mit Verpackung und blau schimmernder Scheibe aus dem einzig verbliebenen “Vinyl, CD, DVD, BluRay Raritätenladen” unserer Stadt -- im Hinterhof eines Fabrikgebäudes.
 
2012: Der Wendepunkt
 

Das Portal „Spielfluss" lässt Steam und Xbox Live alt aussehen.
Zurückblickend kann ich den Wendepunkt für digitale Distribution klar festmachen: er begann Ende 2012 mit der Jährung des Maya-Kalenders und der zeitgleichen Einführung der deutschen Vertriebsplattform Spielfluss (Gameflow), die die bisherigen digitalen Vertriebssysteme wie Steam und Xbox Live schnell alt aussehen ließ. Die mussten widerwillig mitziehen, da ihnen die Kunden in Scharen davonliefen. Bot doch Spielfluss erstmalig ein Rückgaberecht für virtuelle Güter, ein Fair-pay-System, bei dem man nur für gespielte Inhalte bezahlte. Und separate Demos waren passé: die Vollversion des Spiels war gleichzeitig auch die Demo. Damit das funktioniert, wurden Spiele erstmalig gestreamt, also abschnittsweise übertragen. So konnte man schon nach wenigen Sekunden losspielen. Der Zugriff auf jede verfügbare Sprachversion wurde ebenso selbstverständlich wie die Alterskontrolle, die zeitgleich mit Einführung des erweiterten biometrischen Personalausweises im Jahr 2015 gestartet war. Die nahm auch den Killerspielkritikern den Wind aus den Segeln, denn die Starterlaubnis eines Ab-18 Spiels erfolgte fortan erst nach Prüfung von Fingerabdruck und Scan der Iris per Webcam.
 
Fair-Pay: Nur bezahlen, was man wirklich spielt

Doch was bedeutet nun Fair-pay? Es dürfte aus Sicht des Jahres 2010 absurd klingen, aber hier im Jahr 2030 zahlen wir nur noch für das, was wir wirklich spielen. Ich muss mich nach der Demoperiode nicht mehr mit der Frage quälen, ob mir das Spiel ganze 100 Euro wert ist (auch die Inflation ist natürlich vorangeschritten...). Spielfluss erlaubt es mir, abschnittsweise zu zahlen. Das Spiel ist so unterteilt, das bei Erreichen bestimmter Punkte automatisch ein Teilbetrag von meinem Konto abgebucht wird. Nur wenn ich das Spiel wirklich zu 100% erledigt habe, sind die vorher vereinbarten 100 Euro (50 Euro in 2010 entsprechend) in kleinen Teilbeträgen vom meinem Konto abgebucht worden. Spielerweiterungen werden genauso abgerechnet. Und für virtuelle Gegenstände hat man selbstverständlich ein Rückgaberecht: Entspricht die neue Plattenrüstung nicht der von mir erhofften Resistenz gegen Rost-Magie, darf ich sie innerhalb von 30 Tagen oder 3 Spielstunden ohne Angabe von Gründen wieder zurückgeben.
 
Einem guten Zweck dient die Abteilung Indie-Spiele. Hier darf jeder sein eigenes Spiel entwickeln und veröffentlichen – zu denselben Konditionen wie die großen Hersteller, aber zum kleinen Preis. Hier ermutigt Spielfluss ganz bewusst die finanzielle Unterstützung unabhängiger Entwickler mit Spendenaufrufen und einem Abo-Modell. Für 15 Euro im Monat erhält man freien Zugriff auf alle Indie Spiele, die Einnahmen werden zu 90% an die Entwickler verteilt. Am meisten erhält der Entwickler, dessen Spiel am längsten gespielt und am höchsten bewertet wurde. Die Nachwuchsförderung für die Spieleindustrie wird in 2030 auch an Universitäten und Fachhochschulen groß geschrieben.
 
2016 - 2018: Die Weltspielekrise
 
Das ist eine Konsequenz aus der Weltspielekrise 2016, als die Verkaufszahlen von Rockstar Hero X und Call of Beauty bis hinunter auf 5-stellige Ziffern ausgelutscht waren, der Social Games Markt mit den immer gleichen Konzepten an einen toten Punkt gelangte und die gesamte MMO-Branche zusammenbrach, als Blizzard einen möglichen Start des Pre-Alpha-Tests für WoW 2 für 2022 vage in den Raum stellte. Letzteres soll nun tatsächlich noch im Jahre 2030 erscheinen, wir warten alle gespannt!
 
Verstärkt wurde die Weltspielekrise in den Folgejahren bis 2018 zusätzlich durch überhastete Reaktionen der Publisher. Zuerst entließen sie große Teile der Belegschaft, schlossen etliche Studios und kündigten an, sich wieder verstärkt auf die Kernkompetenzen zu konzentrieren. Im Klartext: Lizenzspiele und ja keine digitalen Experimente, die den so mächtigen Handel erzürnen könnten. Doch was im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends noch geklappt hatte, ließ die Analysten dieses Mal kalt. In der Folge gerieten alle großen Publisher unter einen enormen finanziellen Druck. Furcht, Skepsis und Pessimismus führten letztlich dazu, das die Publisher reihum ein vielversprechendes Spiel nach dem anderen unfertig und bugverseucht auf den Markt warfen. Doch am 4. Juli 2018, besser bekannt als Gamedependence Day, gingen die Gamer aller Länder auf die Straße und skandierten „Wir sind die Zocker! Ihr seid die Abzocker!“.

2019: Das Spielfluss-Pranger-System

Die Politik wollte bereits einschreiten, lag doch der führende Wirtschaftszweig vieler Industrieländer -- Games -- in Trümmern. Doch die inzwischen errungene Führungsposition im digitalen Markt erlaubte es Spielfluss, die Hersteller zu einem Pranger-System zu verpflichten. Spieler können über ein einheitliches Beschwerdesystem Mängel in einem Spiel melden, und das taten sie fortan auch gnadenlos. Die Top-Ten der Spiele mit den meisten Mängeln wurde für Publisher und Investoren umgehend zu einer derart gefürchteten Liste, dass ein Umdenken in Richtung Qualität schneller stattfand als die Politik zum Handeln in der Lage war. Derart angeprangerte Spiele blieben wie Blei-Bytes auf den Servern liegen. Dazu droht in besonders schweren Fällen eine automatische und unwiderrufliche Rückrufaktion, in deren Zuge alle Käufer ihr Geld zurück bekommen. Bislang gab es nur einen solchen Fall, den Hersteller des Spiels Age of Hellgothic 3: Vampire Mass Charade traf die Rücknahme so hart, das er als letzter Publisher der alten Garde „Quartal vor Qualität“ im Jahr 2021 Insolvenz anmelden musste.
 
Als letztes fielen die Region-Codes.
Als letztes Überbleibsel der unvernetzten Welt wurden im Jahr 2026 die Region-Codes – viel zu spät – abgeschafft. TV Serien werden in den hochtechnisierten Ländern gleichzeitig und mehrsprachig über das Internet ausgestrahlt. Man abonniert nicht mehr ganze PayTV Sender, sondern gezielt einzelne Sendungen. Werbefrei, versteht sich. Eine Folge Dr. Lost’s Housewives kostet ohne Werbeunterbrechung 1,50 Euro, im Abo zahle ich für die ganze Staffel mit 20 Folgen nur 20 Euro. Das lohnt sich, denn alle gekauften Sendungen kann ich wann und so oft ich will überall abrufen, auf jedem Gerät, und egal, welche neue Varianten desselben Inhalts in Zukunft mit besserer Auflösung oder stärkerem 3D-Effekt noch herauskommen werden. Für denselben Film oder dasselbe Spiel im Laufe der Jahre für x Plattformen zigmal zahlen? Die heute 15jährigen halten das für einen schlechten Witz!
 
2030: Die Raubkopierer-Szene ist ausgetrocknet

Nach der konsequenten Umstellung auf digitale Distribution aller Medien betreibt nur noch eine eingeschworene Gemeinde das illegale Filesharing weiter, aus Prinzip und aus Nostalgie. Man duldet sie als Freerider und gliedert sie anders in den Markt und das Marketing ein: Da fleißige Schreiber auf populären Seiten wie dem IGGN (International GamersGlobal Network) virtuelle Credits verdienen, die sie  für Medieninhalte einlösen können, schreiben manche Freerider nun lieber interessante News und Reviews anstatt in Szene-Foren moviez zu nuken, weil am Filmrand eine Sekunde lang ein Bildfehler zu sehen war. Mit derselben Akribie schreiben sie jetzt Essays. Die Popularität der Raubkopiererszene ist in den letzten zehn Jahren stetig gesunken: Da das Fair-Pay-System für Minderjährige automatische prozentuale Rabatte nach der Formel "( 18 minus Lebensjahre ) mal 5" bereithält, gewöhnen sich schon die jungen Spieler daran, mit ihrem Taschengeld für Spiele zu zahlen -- zumal sie ja nur für das löhnen müssen, was sie auch tatsächlich konsumieren, also gut finden. Seit die Erzeuger von Inhalten begriffen hatten, dass man die eigenen Kunden wie Könige und nicht wie potentielle Diebe behandeln sollte, löste sich das Raubkopierproblem in Wohlgefallen auf.
 
Im Museum of New Media, das 2029 in New York eröffnet wurde, haben denn auch Relikte der schamlos übertriebenen Kampagnen „Raubkopierer sind Verbrecher“ und „You wouldn’t steal a car.“ in der Abteilung für gescheiterte PR ihren Platz gefunden. Die Museumsbetreiber kreierten dafür den englischen Kunstbegriff PR-assing. Ein Wortspiel aus PR und embarrassing, zu deutsch: arschpeinliche PR.
 
Moment, es ist immer noch April 2010, und ich habe mir das alles nur ausgedacht? Das kann nicht sein, dafür ist diese Zukunft einfach zu schön. Für Spieler. Und für uns Programmierer.

Euer Steffen Itterheim

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