Roland Austinat sorgt sich:

Auslaufmodell Spieletest? Meinung

Roland Austinat wohnt und arbeitet in San Francisco, was ihm nicht nur auf Spiele einen anderen Blick gibt -- so finden sich PC-Titel quasi gar nicht mehr in den Läden der Stadt --, sondern auch auf Spielethemen genereller Natur. In dieser Kolumne zweifelt er, ob Spieletests (wie sie auch GamersGlobal macht) noch eine Zukunft haben.
Roland Austinat 28. Dezember 2009 - 10:25 — vor 14 Jahren aktualisiert
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Vorab ein Wort in eigener Sache: Einige Leser vermuteten nach meiner letzen Kolumne dunkle Verschwörungen, was die Themenwahl meiner Beiträge angeht - von der Spieleindustrie bis zu den Illuminaten waren so ziemlich alle einflussreichen Gruppen dieser Welt dabei. Darauf kann ich nur entgegnen: Keiner meiner seit 1993 verfassten Artikel zu PC- und Videospielen wurde mir von irgendjemandem diktiert, weder thematisch noch inhaltlich. Sicher legten mir einige Chefredakteure immer wieder Spiele auf den Tisch, die sonst keiner testen wollte oder konnte, da fallen mir spontan diverse Star-Trek- oder Baseball-Titel ein. Aber was ich dann schreibe, bestimme ich ganz alleine. Das geht übrigens nicht nur mir so, sondern allen Autoren hier auf Gamers Global.

Doch zum eigentlichen Thema: Wer braucht heute noch einen Spieletest? Haben Wertungen überhaupt noch eine Bedeutung? Auf einschlägigen Webseiten schlugen in den letzten Wochen die Meinungen hohe Wellen, als etwa Altredakteur und derzeitiger Xbox-Marketing-Mann Boris Schneider-Johne in seinem Blog behauptete, dass Hersteller sehr wohl Wertungsgarantien gegen Testmuster verlangen könnten, er (Boris) gleichzeitig bei Tests auf die Zahl am Ende sehr wohl verzichten könne. Petra Fröhlich (PC Games) hielt auf der hefteigenen Webseite mit dem Spruch: "Keine Wertung, keine Eier!" dagegen. Aber beweist nicht jemand, der auf die Wertung verzichtet, viel mehr Mut? Ich glaube schon. Doch warum bestehen so viele Leute auch heute noch auf eine Zahl, um ein so komplexes Erlebnis wie ein Spiel zu beschreiben? Geht das überhaupt?

Enge Verzahnung

Spieletests und -wertungen sind seit den 80er Jahren eng miteinander verzahnt. Das war damals sinnvoll, denn damals erschienen weit weniger viele Titel pro Monat, bei denen es sich oft um richtig miese Gurken handelte. Sinnvoll war da auch ein Zehner- oder Hundertersystem, um ein Spiel einzuordnen und ein deutliches "Finger weg!", "Durchschnitt" oder "Super!" zu verkünden. Das sieht heute, zumindest meiner Meinung nach, ganz anders aus: Aufgrund gestiegener Produktionskosten, langen Entwicklungszyklen und ausufernder Fokusgruppentests gibt es nur wenige richtig schlechte Spiele. Selbst die heute eher mäßigen Titel sind die durchschnittlichen Produkte von damals.

Allein: Eine durchschnittliche Wertung sind heute keine 50 Prozent mehr. Und auch keine 5.0 bei GamersGlobal. Der Durchschnitt lag auch niemals bei 50 Prozent, ich will hier keine Geschichtsnostalgie betreiben. Aber er lag definitiv niedriger! Und wo früher zumindest ein Wertungsbereich von etwa 40 bis 90 Prozent ausgenutzt wurde, herrscht heute vielerorts die Denke "Nur 75 Prozent? Das kann ja nichts taugen!" Statt optimalerweise in 100 (1-100), realistischerweise 60 (40-100) Abstufungen rangieren Wertungen heute vorwiegend in der Zone 85 bis 95, meinetwegen noch 80 bis 95. Das sind gerade mal zehn bis 15 Möglichkeiten einer eigentlich auf 100 Punkte ausgelegten Skala. Wertungsvielfalt sieht anders aus. Und dass sich drei Spiele mit den Endwertungen 79, 80 und 81 wirklich dramatisch unterscheiden, kann mir keiner weismachen.

Bonus für Mitarbeiter nur bei guten Tests?

Ein Hauptgrund für eine Wertungsexistenz sind natürlich die Hersteller selbst, die ihre Mitarbeiter oft nur nach einer besonders guter Zahl am Ende eines Tests mit einem Bonus belohnen. Das werden viele Industrievertreter zwar bestreiten, doch ihre gleichzeitigen Beschwerden über eine Seite wie Metacritic.com, auf der aus einer Menge Einzelwertungen ein Durchschnitt gebildet wird, sprechen eine andere Sprache. Ein anderer, aus Leserseite verständlicherer Grund: Es gibt im Vergleich zu früher einfach zu viele Spieletester.

Es gibt im Vergleich zu früher einfach zu viele Spieletester
Das ist gar nicht mal böse gemeint. Doch wer immer nur von den gleichen fünf Personen über die neuesten Spiele informiert wird, kennt nach einer Weile deren Geschmack und deren Vorlieben, so dass im Extremfall schon ein "Superspiel, unbedingt kaufen!" reicht. In der heutigen Medienlandschaft gibt es jedoch so viele Magazine, Webseiten und Co., dass es einfach gar nicht möglich ist, alle Schreiber so gut wie die besten Freunde zu kennen. Dazu wechseln sie immer mal wieder das Magazin, den Verlag oder gar den Beruf und verschwinden damit völlig aus der Meinungsmaschinerie. Doch ist das wirklich ein hinreichender Grund dafür, unbedingt an Wertungen festzuhalten?

Ich kann auch ohne Wertung leben

Ich für meinen Teil könnte jedenfalls prima ohne herkömmliche Spieletests mit einer abschließenden Wertung leben, die ein so komplexes Gebilde nur höchst unzulänglich beschreibt. Stattdessen würde ich mich über einen knackigen Text freuen, in dem der Autor darauf eingeht, wie er sich beim Spielen gefühlt hat. So ein Text muss auch gar keine fünf Seiten lang sein: ein paar schmucke Bilder, meinetwegen auch Kästen mit besonders denkwürdigen Ideen und Spielmomenten finde ich viel attraktiver.

Genau so macht es beispielsweise das englische Magazin EDGE - die einzige Zeitschrift, die ich heute noch von der ersten bis zur letzten Seite lese. Sicher ist eine kurze Beschreibung der Spielmechanik sinnvoll, doch ich persönlich kriege zuviel, wenn mir lang und breit die Zahl der Waffen, Level, Gegner, Fahrzeuge und so weiter herunter gebetet werden. Das sind Daten, die ich auch auf der Schachtel, der Herstellerwebsite oder Dutzenden von Preview-Artikeln finden kann. Ein Abenteuerfilm wird in Kinozeitschriften ja auch nicht anhand der Zahl seiner Schauplätze, der Haarfarbe aller Freundinnen des Helden und der Zahl der abgemurksten Bösewichte beschrieben. Stattdessen zählen Story und die Gesamtheit des Werkes.

Macht selbst das Experiment!

Bekäme Schach eine höhere Wertung als Mensch ärgere dich nicht?
Wenn Ihr meint, dass das etwas überspitzt ist, ermutige ich Euch zu folgendem Experiment: Nehmt mal zwei Tests eines Mediums wie einer Zeitschrift oder einer Webseite, in denen ähnlich gute Spiele des gleichen Genres besprochen werden. Tauscht in den persönlichen Meinungen oder Meinungskästen die Namen der Spiele aus und lest Euch beide noch einmal durch. Bemerkt Ihr einen Unterschied? Oder wie sieht es mit nichtelektronischen Spielen aus: Bekäme Schach eine höhere Wertung als Mensch ärgere Dich nicht, weil es längere und taktisch vielschichtigere Partien erlaubt? Wie dann aber den Mehrspielerspaß von Mensch ärgere Dich nicht bewerten? Ein deutscher Privat-TV-Sender warb vor einer Weile mit dem Spruch "Powered by Emotion" - ein für mich sehr nachahmenswertes Motto. Ich bin sicher, dass noch nicht jeder von euch meinen Standpunkt teilt -- also schreibt via Comments, wie ihr zum Thema Spieletests und Bewertungen steht!

Einen guten Rutsch ins Neue Jahr und bis zur nächsten Kolumne,

Euer Roland Austinat


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